Beschreibung der Unterrichtseinheit
Die Materialien zeigen exemplarisch, wie im Unterricht von den Irritationen, Fragen und Hypothesen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden kann.
Im Zentrum der Behandlung des Textes steht die Frage, warum ein Gedicht wohl den Titel "Ganymed" trägt, in dem ein lyrisches Ich seine vom Frühling ausgelösten möglicherweise sexuellen Erregungszustände schildert, die am Ende scheinbar in einer Begegnung mit einer Vaterfigur ihre Erfüllung und Abfuhr finden.
Um diese Frage zu klären soll der Gedichttext zunächst textimmanent analysiert, dann im Kontext weiterer Texte und abschließend bezogen auf andere Interpretationen gelesen werden, um die in einer textimmanten "genau lesenden" Analyse erarbeiteten Deutungsergebnisse zu kontrastieren und gegebenenfalls zu erweitern.
Lesen Sie hier den Fachartikel "Goethes "Ganymed" genau lesen".
Didaktisch-methodischer Kommentar
Die Methode des genauen Lesens
Lesen Sie hier den Fachartikel über das literaturdidaktische Modell des "genauen Lesens" (Chirollo/Schröder, 2017)
Exemplarisches Arbeiten an einer Kernfrage, über die Uneinigkeit herrscht
"Warum trägt ein Gedicht wohl den Titel "Ganymed", in dem ein lyrisches Ich seine vom Frühling ausgelösten möglicherweise sexuellen Erregungszustände schildert, die am Ende scheinbar in einer Begegnung mit einer Vaterfigur ihre Erfüllung und Abfuhr finden?" So lautet die auf eine befremdliche Leseerfahrung bezogene zentrale Fragestellung, die von Lesenden häufig so oder ähnlich in einem literarischen Gespräch zum Gedicht gestellt wird und über die auch in der fachwissenschaftlichen Rezeption des Gedichts Uneinigkeit herrscht.
1. Schritt: Literarisches Gespräch und textimmanente Analyse
Bei einer auf die oben genannten Frage bezogenen textimmanenten Analyse durch genaues Lesen kann zunächst erarbeitet werden, dass Ganymed durch eine bedeutungsstiftende Kohärenz geprägt ist, die wie folgt beschrieben werden kann:
Innere und äußere Natur erweisen sich für das lyrische Ich als sich gegenseitig bedingende Quellen eines als hoch intensiv erlebten Erregungszustandes. Als reale Naturphänomene wirken Frühlingssonne, Blume, Gras, Nachtigall. Die von ihnen im lyrischen Ich erregte Libido findet kein Liebesobjekt, mit dem es in der irdischen Realität eine erfüllende Beziehung eingehen könnte. Am Ende des unerfüllten Erregungszustandes entflieht das lyrische Ich aus diesem Zustand, indem es gen Himmel, also fort aus der irdischen Realität zieht und dort zunächst Wolken, dann einen Vater und gottgleiche Figur findet, die als Ersatz an die Stelle greifbarer realer Objekte tritt und an Stelle dieser erotisiert wird. Das Gedicht endet, indem es das lyrische Ich in einer sich anbahnenden erotischen Vereinigung mit der Vaterfigur zeigt. Es erlebt sich ihm im Schoße (!) der Wolken in einer harmonischen, gegenseitigen Bewegung (aufwärts-abwärts, umfangend-umfangen) anzunähern, denn es heißt "an deinen Busen", nicht "an deinem". Die Annäherung ist noch nicht vollzogen. Diese für uns Leserinnen und Leser irritierende Konstellation empfindet das lyrische Ich als Erfüllung. Eine Bezugnahme zum Mythos erfolgt erkennbar im Titel der Hymne.
2. Schritt: Kontextbezogene Analyse
Diese Erkenntnis kann durch eine kontextbezogene Lektüre des Gedichts abgesichert und erweitert werden: Im Kontext des antiken Ganymed-Mythos gelesen ist deutlich zu erkennen und dies zerstreut letzte Zweifel am sexuellen Inhalt der vom lyrischen Ich artikulierten Sehnsüchte, dass es sich beim Sprecher wohl um den Ganymed des Mythos handelt, um einen jungen Mann, der sexuellen Begierden weckte und den ihn begehrenden Göttinnen und Göttern homo- und heterosexuelle Lustbefriedigung bot. Während bei Goethe das lyrische Ich in einer dialogischen Auseinandersetzung mit der Natur sich erotisiert und sich dabei "aus freien Stücken", vom Ruf einer Nachtigall, am ehesten wohl zu verstehen als Projektion seiner Sehnsucht oder seines Begehrens, erregt dem Himmel zuwendet (Drux 1996, 118), wird Ganymed im Mythos von Zeus bzw. Jupiter entdeckt, begehrt, entführt und sexualisiert.
Im sozialhistorischen Kontext gelesen erweist sich, dass Goethe in Ganymed den "unlösbaren Widerspruch zwischen Persönlichkeitsentwicklung und bürgerlicher Gesellschaft" (Lukács 1939, 25) artikuliert. Die bürgerliche Aufklärung verlangt den Individuen Verzicht und Triebkontrolle ab, die diese durch die Flucht in die Natur nur unzureichend kompensieren können. In Ganymed zeigt sich so die Grenze der Persönlichkeitsentwicklung in der frühen bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.
3. Schritt: Rezeptionsbezogene Analyse
Erstaunlicherweise herrscht in der Fachwissenschaft große Uneinigkeit über das Gedicht. Der Vergleich der im Unterricht durch ein genaues Lesen des Gedichts erarbeiteten Erkenntnisse mit den Deutungen von drei Literaturwissenschaftlern kann aufzeigen, dass die Bedeutungsoffenheit literarischer Texte Grenzen hat. Es gibt (fachwissenschaftliche) Deutungen, die durch das genaue Lesen eines Textes deutlich nachweisbar als falsch und textfern bezeichnet werden können.
4. Schritt: Klärung der Frage, was Literatur leisten kann
Die Lernenden versuchen abschließend, Antworten auf die Frage zu formulieren, was Literatur ist und was sie kann.