Wikis im Geschichtsunterricht

Fachartikel

Gerade im Geschichtsunterricht, in dem das Kontextwissen zu einem historischen Phänomen oder Ereignis von großer Bedeutung ist, profitieren Schülerinnen und Schüler vom Wissen der anderen. Zudem bieten Wikis die geeignete Plattform für das kooperative Arbeiten und (Re-)Konstruieren von Geschichte.

Die Diskussion um das im Jahr 2003 von Internetpionier Tim O`Reilly eingebrachte Schlagwort "Web 2.0" ist in vollem Gang. Einige der diskutierten Fragestellungen sind: Hat sich das Internet in den letzten Jahren tatsächlich geändert? Sind diese Änderungen im Bereich der Technik oder im Bereich der Qualität der Nutzung auszumachen? Lassen sich die Entwicklungen für den Fachunterricht in der Schule nutzen?

Web 2.0 und die Wiki-Idee

Geschichte

Zunächst lässt sich feststellen, dass sich die Internettechnologie nicht grundsätzlich verändert hat. Die interaktiven Möglichkeiten, welche das so genannte "Web 2.0" den Nutzern bietet, waren schon in den Anfängen des World Wide Web vorhanden und angedacht. So verfügte der von Tim Berners Lee entwickelte Mosaic Web Browser bereits über eine Editierfunktion, mit der jedwede Internetseite im Netz editierbar sein sollte. Sie verschwand jedoch im Laufe der Zeit. Gleichermaßen verhält es sich mit der Wiki-Idee. Im Jahr 1995 entwickelte Ward Cunningham das WikiWikiWeb, eine einfach zu bedienende und online verfügbare Dokumentationssoftware, die die Zusammenarbeit von Programmierteams verbessern sollte.

Mentalitätswandel beim Internetnutzer

Betrachtet man die Nutzerseite, gelingt es schon eher, sich dem Phänomen Web 2.0 anzunähern. Der Umgang der User mit dem Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Das Netz wird in zunehmendem Maße als Lern- und Arbeitsplattform genutzt. Auf bestimmte Funktionalitäten und Applikationen, die vorher lediglich als lokale Anwendungen (Tonaufnahme, Textverarbeitung) vorstellbar waren, sind nun online verfügbar und von vielen gemeinsam nutzbar. Diese Tatsache zog im Laufe der letzten Jahre auch einen Mentalitätswandel nach sich. Der Internetnutzer avancierte zum aktiven Netzteilnehmer, der in Communities organisiert Content erstellt, verändert, löscht und durch Verlinkung Hypertext erzeugt.

Was ist ein Wiki?

Einfache Bedienbarkeit

Die Beteiligung und Teilnahme des Einzelnen ist auch bei den Wikis erforderlich, deren bekanntester Vertreter die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist. Der Begriff Wiki kommt aus dem Hawaiianischen. In deutscher Übersetzung bedeutet "wiki" soviel wie "schnell", womit eines der Grundprinzipien von Wikis benannt wird. Die Internetseiten eines Wikis sind einfach zu editieren. Das Anlegen, Löschen, Verändern und Verlinken der Seiten erfolgt in der Regel mit einem Mausklick.

Flexibilität des Einsatzes

Die zeitlichen und räumlichen Grenzen der Schulstunde durch den 45-Minuten-Takt und das Klassenzimmer sind beim Arbeiten mit Wikis nicht bindend. Prinzipiell kann man zu jeder Zeit und an jedem Ort - einen Computer mit Internetanschluss vorausgesetzt - am Wiki arbeiten. Der Zugriff auf die Internetseiten erfolgt gemeinschaftlich, das heißt, die Autorenschaft geht an das Kollektiv der Wikinutzer über. Artikel werden in der Regel kollaborativ geschrieben. HTML-Kenntnisse sind von Vorteil, aber nicht zwingend notwendig. Die meisten Wikis verfügen über einen leicht zu handhabenden WYSIWYG (What you see is what you get)-Editor, der die Eingaben direkt in die jeweilige Wiki-Auszeichnungssprache übersetzt. Insofern bieten Wikis eine äußerst flexible und an den jeweiligen Unterrichtskontext anpassbare Lernumgebung, bei der jeder vom Wissen des anderen profitiert und sein eigenes Können einbringen kann. Die Versionsverwaltung ermöglicht es, ältere Textversionen wiederherzustellen, so dass das Überschreiben einer gelungenen Version leicht rückgängig gemacht werden kann.

Einsatzmöglichkeiten im Geschichtsunterricht

Für handlungs- und produktorientierte Konzepte

Wikis lassen sich im Geschichtsunterricht auf vielfältige Art und Weise einsetzen und in eine moderne handlungs-, produkt- und problemorientierte Unterrichtsplanung einbinden. Die von der Software gebotenen Möglichkeiten machen Wikis zu einem mächtigen Unterrichtswerkzeug. Schülerinnen und Schüler können online editieren, publizieren, über Lerngegenstände diskutieren und Hypertexte erstellen. Mit Hilfe von Wikis sind sowohl das kollaborative Arbeiten an Texten als auch die Einbindung multimedialer Elemente möglich. Die Entwicklung zum interaktiven und gemeinschaftlich erstellten Geschichtsbuch, das sich durch komplexe Hypertextstrukturen auszeichnet, erscheint nun realisierbar. Durch das Setzen von Links durch die Schülerinnen und Schüler erhält die Darstellung gleichsam eine semantische "Tiefenstruktur".

Beispiele

Didaktisch sind unter anderem folgende fachspezifische Einsatzszenarien von Wikis im Geschichtsunterricht vorstellbar:
  • Archivieren und Dokumentieren

    Schülerinnen und Schüler können gemeinsam erstellte Texte im Wiki archivieren und dokumentieren. Aber auch eigene Archivalien (zum Beispiel Fotografien) können digital aufbewahrt werden.
  • Planung, Koordination und Durchführung von Projekten

    Die Schülerinnen und Schüler bereiten beispielsweise eine Exkursion mit Hilfe eines Wikis inhaltlich vor und formulieren vor dem Hintergrund ihres angeeigneten Wissens Forschungsfragen, die während der Exkursion gelöst werden können.
  • Plattform für ein "Wiki Based Brainstorming"

    Schülermeinungen werden zu Beginn eines Projekts oder einer Unterrichtseinheit ohne Kommentierung zunächst gesammelt, um mögliche Lösungsansätze der Lerngruppe zu erheben, aber auch um das Vorwissen zu aktivieren.
  • Kooperative Quellenanalyse

    Innere und äußere Quellenkritik können durch das Setzen von Links realisiert werden. So wird die Tiefenstruktur des Materials und des Textes, gleichsam Teile des historischen Kontextes, mit Hilfe von Hypertext "einsehbar".
  • Gemeinschaftliche Erstellung von Übersichten oder Zeitleisten

    Wichtige Schlüsselereignisse werden gesammelt und sukzessive -im Idealfall über das Schuljahr hinausgehend- im Wiki dokumentiert.
  • Entwicklung von Klassenenzyklopädie oder Schülerlexikon

    Von den Schülerinnen und Schülern recherchierte und erarbeitete Schlüsselbegriffe werden im Wiki definiert und erklärt. Dies kann sehr gut klassenübergreifend realisiert werden. Denkbar ist auch das Gestalten als Schulwiki.
  • Übersetzen fremdsprachlicher Texte

    Insbesondere im bilingualen Geschichtsunterricht bieten Wikis neue didaktische Gestaltungsmöglichkeiten. Die Schülergruppe arbeitet gemeinsam an der Übersetzung fremdsprachlicher Quellenmaterialien oder Internetseiten.
  • Fortsetzungsgeschichten

    Brachning Stories (Fortsetzungsgeschichten) zu historischen Schlüsselereignissen (zum Beispiel zur Julikrise) können gemeinsam erstellt werden.
  • Schülerpräsentationen

    Das Wiki kann auch als Plattform zur Veröffentlichung von Projektergebnissen dienen: Schülerinnen und Schüler veröffentlichen hier ihre Arbeiten. Gleichzeitig wird die Beteiligung des Einzelnen durch die Versionshistory gespeichert.

Bedeutung des diskursiven Arbeitsprozesses

Beim "Read/Write"-Web verschmelzen Lese- und Schreibakt. Im Austausch mit den anderen Nutzern ist die Arbeit am Wiki ein diskursiver Prozess. Die "Rekonstruktion" von Geschichte erfolgt durch die und in der Diskussion. Darstellungen, Argumente, Thesen müssen intersubjektiv verantwortbar sein. Schülerinnen und Schüler können durch diese (Forschungs-)Diskussionen im kleinen Stil das Ringen um Deutung und Interpretation nachvollziehen, was auch im Hinblick auf die Wissenschaftspropädeutik in der Oberstufe von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

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Alexander König

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