Goethes "Ganymed" genau lesen
Dieser Fachartikel zu Goethes Gedicht "Ganymed" (vermutlich 1774) beruht auf dem literaturdidaktischen Modell des "genauen Lesens" (Chirollo/Schröder, 2017). Er erläutert die fachdidaktischen Überlegungen, die der Unterrichtseinheit zu dem Gedicht zugrunde liegen. Eine ausführlichere Download-Version des Fachartikels vertieft die hier skizzierten fachdidaktischen Darlegungen.
Im Zentrum einer Behandlung des Gedichts steht die auch von Lernenden in der ein oder anderen Form gestellte Frage, warum ein Gedicht wohl den Titel "Ganymed" trägt, in dem ein lyrisches Ich seine vom Frühling ausgelösten möglicherweise sexuellen Erregungszustände schildert, die am Ende scheinbar in einer Begegnung mit einer Vaterfigur ihre Erfüllung und Abfuhr finden.
Ein befremdlicher, irritierender Text
Das Befremden oder die Irritation wird dadurch ausgelöst, dass im Text ein lyrisches Ich die innere und äußere Natur als Quellen eines als hoch intensiv erlebten Erregungszustandes erlebt: Als reale Naturphänomene wirken Frühlingssonne, Blume, Gras, Nachtigall. Die von ihnen im lyrischen Ich erregte Libido findet kein Liebesobjekt, mit dem es in der irdischen Realität eine erfüllende Beziehung eingehen könnte. Am Ende des unerfüllten Erregungszustandes entflieht das lyrische Ich aus diesem Zustand, indem es gen Himmel, also fort aus der irdischen Realität zieht und dort zunächst Wolken, dann einen Vater und gottgleiche Figur findet, die als Ersatz an die Stelle greifbarer realer Objekte treten und an Stelle dieser erotisiert werden.
Sehnsucht nach einer erotischen Vereinigung mit einer Vaterfigur?
Das Gedicht endet, indem es das lyrische Ich in einer sich anbahnenden erotischen Vereinigung mit der Vaterfigur zeigt. Es erlebt sich ihm im Schoße (!) der Wolken in einer harmonischen, gegenseitigen Bewegung (aufwärts-abwärts, umfangend-umfangen) anzunähern, denn es heißt "an deinen Busen", nicht "an deinem". Die Annäherung ist noch nicht vollzogen. Diese für uns Leserinnen und Leser irritierende Konstellation empfindet das lyrische Ich als Erfüllung. Eine Bezugnahme zum Mythos erfolgt erkennbar im Titel der Hymne.
Diese Erkenntnis kann durch eine kontextbezogene Lektüre des Gedichts abgesichert und erweitert werden:
Der Text im Kontext des antiken Ganymed-Mythos
Im Kontext des antiken Ganymed-Mythos gelesen ist deutlich zu erkennen und dies zerstreut letzte Zweifel am sexuellen Inhalt der vom lyrischen Ich artikulierten Sehnsüchte, dass es sich beim Sprecher wohl um den Ganymed des Mythos handelt, um einen jungen Mann, der sexuelle Begierden weckte und den ihn begehrenden Göttinnen und Göttern homo- und heterosexuelle Lustbefriedigung bot.
Goethes Ganymed sucht die Nähe der Götter aus freien Stücken
Während bei Goethe das lyrische Ich in einer dialogischen Auseinandersetzung mit der Natur sich erotisiert und sich dabei "aus freien Stücken", vom Ruf einer Nachtigall, am ehesten wohl zu verstehen als Projektion seiner Sehnsucht oder seines Begehrens, erregt dem Himmel zuwendet (Drux 1996, 118), wird Ganymed im Mythos von Zeus bzw. Jupiter entdeckt, begehrt, entführt und sexualisiert.
Ein Gedicht über die Grenzen der bürgerlichen Aufklärung?
Im sozialhistorischen Kontext gelesen erweist sich, dass Goethe in Ganymed den "unlösbaren Widerspruch zwischen Persönlichkeitsentwicklung und bürgerlicher Gesellschaft" (Lukács 1939, 25) artikuliert: Die bürgerliche Aufklärung verlangt den Individuen Verzicht und Triebkontrolle ab, die diese durch die Flucht in die Natur nur unzureichend kompensieren können. In Ganymed zeigt sich so die Grenze der Persönlichkeitsentwicklung in der frühen bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.
Verleugnung der sexuellen Konnotationen des Textes in der Fachliteratur
Erstaunlicherweise herrscht in der Fachwissenschaft große Uneinigkeit über das Gedicht. Vergleicht man die im Unterricht durch ein genaues Lesen des Gedichts erarbeiteten Erkenntnisse mit den anderen Deutungen, die von Literaturwissenschaftlern vorgelegt worden sind, so zeigt sich, dass die Bedeutungsoffenheit literarischer Texte Grenzen hat: Es gibt fachwissenschaftliche und fachdidaktische Deutungen, die durch das genaue Lesen eines Textes als textfern bezeichnet werden können. Diese Deutungen zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie die sexuellen Konnotationen des Textes verleugnen.
Literatur
Chirollo, Natalie / Schröder, Achim (2017): Literarisches Verstehen durch "genaues Lesen": ein Drei-Phasen-Modell zur Planung von Literaturunterricht, Wiesbaden, Lehrer-Online. Online
Drux, Rudolf u.a. (1996): Ganymed, in: Witte, Bernd/ Otto, Regine (Hg.): Goethe Handbuch, Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 115-118.
Härle, Gerhard (2007): Lyrik -Liebe-Leidenschaft. Lyrik - Liebe - Leidenschaft: Streifzug durch die Liebeslyrik von Sappho bis Sarah Kirsch, Göttingen: Vandehoeck & Rupprecht.
Lukács, Georg (1939): Die Leiden des jungen Werther. Zuerst erschienen in Geschichte des Realismus, in: ders., Faust und Faustus, Hamburg 1971.
Tepe, Peter/ Rauter, Jürgen/ Semlow, Tanja (2017): Regeln und Empfehlungen für die kognitive Textarbeit. Online
Ausführliche Version des Fachartikels "Goethes "Ganymed" genau lesen"
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