Georg Büchners "Lenz" genau lesen, Teil VI

Fachartikel

Teil VI des Artikels zu Georg Büchners "Lenz" befasst sich mit der rezeptionsbezogenen Deutung der Novelle.

Die Materialien der Unterrichtseinheit Georg Büchners "Lenz" genau lesen zeigen, wie im Unterricht über "Lenz" zunächst von den Irritationen, Fragen und Deutungshypothesen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden kann, bevor der Interpretationsprozess durch didaktische Entscheidungen beeinflusst wird.

Im Zentrum der Unterrichtseinheit steht die in literarischen Gesprächen zu diesem Text häufig aufgeworfene Frage: "Wieso scheitert Lenz' Versuch, bei Oberlin Ruhe zu finden?". Diese soll im vorliegenden Fachartikel beantwortet werden.

Die rezeptionsbezogene Deutung

In der rezeptionsbezogenen dritten Arbeitsphase wird die durch das textimmanente genaue Lesen hergestellte textsichere Deutung der Lesenden wieder infrage gestellt, auf ihre Tragfähigkeit getestet und in Vergleich mit anderen Deutungen bestätigt oder wenn nötig erweitert.

Ergänzende und falsifizierbare projektiv-aneignende Deutungslogiken kennenlernen

Mit den Interpretationen von Wittkowski und Kobel werden Deutungen vorgelegt, an denen zu problematisierende Vorgehensweisen gezeigt werden können. Deren Logik besteht darin, über die innere Struktur des Textes und über seinen Kontext hinweg scheinbar überzeitlich gültige Wahrheiten zu postulieren, die dieser dann in einem projektiv-aneignenden (Tepe/Rauter/Semlow 2017, 5) Umgang mit dem Text als gültig behauptet werden. Der Text und seine Lektüre werden benutzt, um Thesen, die vor dem Lesen des Textes schon feststehen, zu untermauern.

Lenz religiös gelesen

Einer religionskritischen Deutung widerspricht Wittkowski (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen"), da er mit der Predigt "den inneren Höhepunkt, die größte Nähe zur Wahrheit, zum Göttlichen" erreicht sieht.

Lenz werde wahnsinnig, weil er an etwas scheitere, was dem Menschen generell unmöglich sei. Oberlin wird rein positiv gesehen. Hinzuweisen ist hier darauf, dass die religiösen Deutungen in der Tradition "geistesgeschichtlich/geisteswissenschaftlicher Literaturwissenschaft stehen, die sich dadurch auszeichnet, nicht den konkreten historischen Menschen und den konkreten historischen Kontext der Texte zu betrachten, sondern große Ideen als wirksam anzunehmen" (Hinderer 1990).

Auch Kobel (1983) (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") schlägt eine religiöse Deutung der Novelle vor. Für ihn zeigt sich in "Lenz" ausdrücklich kein Protest gegen den falschen Gebrauch von Religion. Lenz verwirkliche sich in einem Leiden, "welches das Wohl nicht außerhalb seiner hat und deshalb froh (sic !) zu machen" vermöge. Mit der Predigt kläre sich "alles Verworrene", gewinne "das Leiden seinen Sinn", gelange "das Unstete zur Ruhe".

Offensichtlich ist, dass Kobel den Text nicht genau liest, sondern ihn sich aneignet, um ihm eine (offenbar von einer pietistischen Leidensfrömmigkeit geprägten) Deutung überzustülpen. Das Interesse, das sich hinter diesem Vorgehen verbirgt, ist die Abwehr der religionskritischen Elemente in Lenz. Kolb versucht, das Religiöse als Sinngefüge gegen einen Text zu verteidigen, der eben gerade dies infrage stellt.

"Lenz" psychologisch gelesen

An Irles (1965) psychologischer Deutung (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") von "Lenz" fällt auf, dass er sich nicht auf eine präzise Analyse der Predigt-Szene einlässt. Stattdessen instrumentalisiert er die Novelle um seine Funktionsbestimmung von Literatur zu untermauern: Die besondere Qualität von Literatur zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass "der Dichter zur rechten Zeit der psychiatrischen Wissenschaft einen Dienst leisten" kann. Dieser Dienst besteht darin, "im Grunde bekannte Sachverhalte" – die der Leser im Text dann nur noch nachvollziehen braucht – so darzustellen, dass sie für alle Gestalt gewinnen, das heißt von allen verstanden werden.

Literatur dient Irles zur Popularisierung schon geleisteter wissenschaftlicher Erkenntnis. Nur Lenz' Verhalten wird problematisiert. Nicht untersucht wird, ob Lenz' Umwelt einen irritierenden und krank machenden Einfluss auf ihn haben könnte.

Anz (1989) (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") schlägt eine psychologische Interpretation der Novelle vor, die Lenz' Verhalten problematisiert und deshalb nicht untersucht, ob Lenz' Umwelt einen irritierenden und krankmachenden Einfluss auf ihn haben könnte.

"Lenz" gesellschaftskritisch historisch gelesen

Liest man "Lenz" hingegen gesellschaftskritisch und literatursoziologisch, den Text auf seinen Bezug zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit untersuchend, so zeigen sich große Übereinstimmungen mit den Ergebnissen der "genauen" Textanalyse.

Thorn-Prikker (1978) (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") sieht wie Gloßklaus und Poschmann im Motiv des Wahnsinns nicht das Resultat einer tragischen Abkehr von der Religion und von den "Gott-Vätern" (vergleiche Wittkowski 1978), sondern ein Symptom der "gesellschaftlichen Wirklichkeit" (Hinderer 1990, 80). Sein Hinweis darauf, dass Lenz nicht im eigentlichen Sinn religiös ist, sondern eine rein instrumentelle Auffassung von Religion hat, kann den religiösen Deutungen als Korrektiv entgegengestellt werden.

Damit beantwortet sich die Frage, ob nicht Lenz, sondern die gezeigte Welt das Verrückte manifestiere (Hinderer 1990, 81): Ob "der Wahnsinn [...] das 'Normale'" sein könnte "und das 'Normale' der Wahnsinn in einer Welt, wie Lenz sie vorfindet" (Kubitschek 1988, 93) (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen").

Sengle (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") plädiert für eine sorgsame Kontextualisierung von Büchners Schriften in die frühsozialistische Literatur und bezeichnet "Lenz" mit Hinweisen auf die zeitgenössische Zensur, die Büchner durch die Wahl des Themas und des Genre geschickt umgehen konnte, als "blasphemische ('historische') Erzählung".

Durch die rezeptionsbezogene Deutung werden neue Fragen aufgeworfen

Eine rezeptionsbezogene Deutung bricht gewonnene Gewissheiten wieder auf, stellt die in der kontextbezogenen Deutung erarbeiteten Thesen in Frage und rekonstruiert den Rätselcharakter des literarischen Kunstwerkes dann, wenn die Lesenden sich neue Fragen stellen und diesen anhand von unterschiedlichen Textdeutungen nachgehen.

Autorintention und Textintention als Fachbegriffe einführen

Die Frage "Was wollte Büchner?" eröffnet die Möglichkeit, im Literaturunterricht den Unterschied zwischen einer "Textintention" (Umberto Eco, zitiert nach Kammler 2010, 227) und einer Autorintention zu erarbeiten.

Textintention

Die Textintention ergibt sich aus der immanent und kontextbezogen erarbeitbaren "Textstruktur". In sie sind beim Schreiben des Textes kulturelle, politische und unbewusste Einflüsse – hier die pietismuskritischen Aspekte - bedeutungsstiftend eingegangen.

Autorintention

Die Textintention ist zu unterscheiden von einer als möglich oder wahrscheinlich anzunehmenden und imaginativ rekonstruierbaren Aussageabsicht des Autors als Subjekt (vergleiche Hirsch 1972, 298), der "Autorintention".

Wollte Büchner den Pietismus kritisieren oder einen verfehlten Umgang mit Religion? Wollte er an Lenz' Schicksal den fatalen Effekt einer unpolitischen, instrumentellen, soziales Elend ertragbar machenden Nutzung von Religion aufzeigen?

Die Beantwortung der Frage nach der Autorintention müsste vorsichtig unter Rückgriff auf weitere Sekundär- und Primärtexte erfolgen und kann im Rahmen des hier vorgelegten Unterrichtsmodells nicht geleistet werden. Es ist legitim, im Unterricht auf offene Fragen zu verweisen, die noch zu klären wären. Literaturunterricht erweist sich in einem solchen Verfahren als eine beständige Suche nach neuen Antworten auf immer neue Fragen, die von einem Text bei genauem Lesen aufgeworfen werden.

Der Zusammenhang von Erkenntnisinteresse und Deutungslogik

Literatur, so wird durch die Analyse der unterschiedlichen Rezeptionen deutlich, wird äußerst unterschiedlich gelesen und interpretiert. Sie ist bis zu einem gewissen Punkt bedeutungsoffen, das heißt sie hat für unterschiedliche Leserinnen und Leser unterschiedliche Bedeutungen. Die Art und Weise der Bedeutungskonstruktion hängt von der Weltsicht und den Interessen der Leserinnen und Leser ab.

Offensichtlich tief religiöse, gläubige Literaturwissenschaftler wie Kolbe und Wittkowski deuten Büchners "Lenz" anders als politisch dem linken Spektrum zuzuordnenden Literaturwissenschaftler, die an der im Text enthaltenen Gesellschaftskritik interessiert sind und nach Spuren einer Geschichte des Widerstands gegen Unterdrückung in der Literaturgeschichte forschen oder wie der DDR-Literaturwissenschaftler Hans Georg Werner nach Vorläufern einer real-sozialistischen Literatur suchen, um der DDR-Gesellschaft eine literaturhistorische Legitimation zu verschaffen:

"Unschwer sind die Gemeinsamkeit der Autoren [dieser politisch als "links" einzuordnenden Studien] zu erkennen: ihre Sympathie mit einem Manne, der gegen die Not der Armen und gegen das Leid der Geschändeten angegangen ist, als wären es die eigene Not und das eigene Leid, die Faszination durch große realistische Dichtungen und nicht zuletzt der Wille, diese für die Selbstverständigung in der sozialistischen Gesellschaft produktiv zu machen" (Werner 1988, 6).

Grenzen der Bedeutungsoffenheit von literarischen Texten aufzeigen

Die Schülerinnen und Schüler erkennen auch, dass die Bedeutungsoffenheit literarischer Texte enge Grenzen hat. Es gibt Deutungen, die durch das genaue Lesen eines Textes deutlich nachweisbar als falsch und textfern bezeichnet werden können.

Welche Erkenntnis ermöglicht Literatur als Kunstform?

Durch die rezeptionsbezogene und eine abschließende literaturtheoretische Auseinandersetzung mit der Frage, welche Erkenntnis gerade Literatur ermöglicht, erkennen die Schülerinnen und Schüler ein besonderes Merkmal der Logik literaturwissenschaftlicher Bedeutungsbildung (Fingerhut 1994): Die Suche nach der Bedeutung eines Textes ist abhängig von Epochenzugehörigkeit, Interessen und sozialen Perspektiven der Leserinnen und Leser und kann deshalb nie als abgeschlossen gelten.

Dies wäre wohl eine von mehreren möglichen Antworten auf die Frage, die nach Gruschka als Mindestniveau im Kunst- und Literaturunterricht zu stellen und zu beantworten wäre: "Welche Erkenntnis ermöglicht Literatur als Kunstform?" (Gruschka 2015, 44).

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