Georg Büchners "Lenz" genau lesen, Teil V

Fachartikel

Teil V des Artikels zu Georg Büchners "Lenz" befasst sich mit der kontextbezogenen Analyse der Novelle.

Die Materialien der Unterrichtseinheit Georg Büchners "Lenz" genau lesen zeigen, wie im Unterricht über "Lenz" zunächst von den Irritationen, Fragen und Deutungshypothesen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden kann, bevor der Interpretationsprozess durch didaktische Entscheidungen beeinflusst wird.

Im Zentrum der Unterrichtseinheit steht die in literarischen Gesprächen zu diesem Text häufig aufgeworfene Frage: "Wieso scheitert Lenz' Versuch, bei Oberlin Ruhe zu finden?". Diese soll im vorliegenden Fachartikel beantwortet werden.

Die kontextbezogene Analyse

Die "Rätselhaftigkeit" des Textes, die darin besteht, dass der Text mit Lenz ein einzigartiges Individuum zeigt, welches durch Religion - anders als die anderen Figuren - keine innere Ruhe findet, kann in einer kontextbezogenen Textanalyse im Unterricht aufgelöst werden, wenn man Lenz' Lebensperspektive historisch im Kontext der zeitgenössischen Thematisierung von Leiden, Revolution, Pietismus und Religion liest.

Bei der Auswahl der Kontexte, in die der Text zu situieren ist, um ihn besser zu verstehen und um Antworten auf die von ihm aufgeworfenen Fragen zu finden, ist sorgsam darauf zu achten, diesem keine Deutungen überzustülpen. Die Kontexte sind nicht beliebig "konstruierbar", sondern sie müssen auf die Fraglichkeiten und Irritationen des Textes bezogen sein. Zu fragen ist:

Welches Leiden hat Büchner im Vormärz vor Augen, wenn er Lenz' Versuch zeigt, die Menschen vom Leiden zu erlösen (Kontext 1)?

Wie beurteilten Büchners Zeitgenossen den Pietismus (Kontext 2)?

Wie beurteilten sie Religion allgemein (Kontext 3)?

Kontext 1: Die elenden Lebensbedingungen der Landbevölkerung führen zu Revolten und religiösem Fanatismus

Liest man "Lenz" im sozial-historischen Kontext der leidvollen Lebensbedingungen der Landbevölkerung, so wird zunächst deutlich, welches Leiden Lenz vor Augen hat und von welchen Leiden er die Gemeinde Oberlins befreien will.

Verelendung und Hunger

Die Auszüge aus Hans Mayers Studie (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") über Georg Büchner und seine Zeit eröffnen einen Blick darauf, woran und wie existentiell die hessische und elsässische Landbevölkerung, die Büchner vor Augen hatte, leidet:

Ihr Leid besteht in materieller Verelendung und Hunger, die in Hessen aus den rückständigen feudalen Produktionsweisen auf dem Land resultieren (vergleiche Mayer 1971), im Elsass unter anderem aus den Missernten und Preissteigerungen der frühen 30er Jahre, einer unterdurchschnittlichen Produktivität der landwirtschaftlichen Produktion, einer Überbevölkerung und der daraus resultierenden Fehl- und Unterernährung (vergleiche Hau 1987, 119): "Seit 1825 kam es als Folge von Missernten zu einem Preisanstieg bei Lebensmitteln, der zu einer Abnahme der Nachfrage nach Baumwollstoffen führte und seit 1827 die elsässische Textilindustrie in eine Absatzkrise stürzte" (Hau 1981, 133; zitiert nach Geiss 2011, 311). Dies führte zu "einer Verelendung der Industriearbeiterschaft und der bäuerlichen Bevölkerung, die nun als 'canaille mendiante' in die Städte drängte" (ebenda) und in Strasbourg Passanten belästigte.

Mangelernten und soziale Unruhen

In dem in der Nachbarschaft des Steinthal gelegenen Val de Villé leiden (in Militärarchiven nachgewiesen für den Zeitraum zwischen 1816 und 1824) über 50 Prozent der Bevölkerung an Mangelernährung (Hau 1987, 135) (siehe Material 3, Text 2 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen"). Hungeraufstände, Steuerrevolten und Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung sind die Folge, wenn das Leiden unerträglich oder nicht durch Theologie zum Willen Gottes verklärt und aushaltbar gemacht wird. Wenige Jahre vor dem Erscheinen von "Lenz" fand die letzte hessische Bauernerhebungen statt, die mit militärischer Gewalt brutal niedergeschlagen wurde.

Lenz' Unruhe erklärt sich vor dem Hintergrund der Erläuterungen zum sozial-historischen Hintergrund zunächst als Reaktion auf das Leiden einer hungernden und unterdrückten Landbevölkerung. Er reagiert mit religiösem Fanatismus. "Thomas Michael Mayer hat in seiner detaillierten Büchner-Chronik beschrieben, dass das erste Auftauchen des für Büchner so wichtigen Themas des 'religiösen Fanatismus' Ende Juni 1832 anzusetzen sei. Büchner habe unmittelbar die gewaltsamen Unruhen im Elsass mitbekommen, als nahe bei Colmar Kleinbauern und Winzer angesichts von Getreideteuerungen und allgemeinem Pauperismus gewalttätig gegen jüdische Aufkäufer vorgingen" (Hanloser 2013).

Kontext 2: Die Kritik an der pietistischen Leidenstheologie im Vormärz

Im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den irrationalen Seiten des Pietismus gelesen wird erkennbar, dass die im Text zu findenden Verweise auf [Jung-] Stilling, auf die Lektüre der Apokalypse, auf Oberlins Mystizismus und auf dessen fatale Wirkung auf Lenz große Ähnlichkeiten mit der zeitgenössischen Kritik an einer bestimmten Ausprägung der pietistischen Erweckungsliteratur aufweisen. Es zeigt sich, dass der Text "Lenz" durch eine kritische Sicht auf Oberlin und seine irrationalen-mystischen pietistischen Erweckungstheologie geprägt ist.

Die zentralen Aspekte des Pietismus können vorab in einem Vergleich gut herausgearbeitet werden (siehe Exkurs 1: "Die christliche Erlösungstheologie"). Die klassische Erlösungstheologie vertraut auf Trost noch im diesseitigen Leben.

Zeitgenössische Pietisten

Im Unterschied hierzu gehen zeitgenössische Pietisten wie Jung-Stilling (1740-1817) und Immanuel Gottlieb Kolb (1781-1859) (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") davon aus, dass das Leben von Leid geprägt ist, das ausgehalten werden muss, und davon, dass der Mensch durch ständige Selbstkontrolle einen engen Kontakt zu Gott halten muss, was Pietisten wie Jung-Stilling überwiegend in Trübseligkeit und düstere Stimmungen versetzte.

Der Text über den Pietismus und die Pietisten Kolb und Jung-Stilling eröffnet einen Blick auf das Milieu, in dem sich Oberlin und mit ihm Lenz im Steinthal bewegen. Deutlich erkennbar wird im Text zudem, dass Oberlins Mystik und Geisterseherei jener ähnelt, die man bei Jung-Stilling finden kann. Durch den Vergleich "Lenz liest das Gleiche wie Stilling" im Novellentext wird unterstrichen, dass Lenz im Kontakt mit Oberlin immer weiter in dessen Milieu verstrickt wird, in ein Milieu, das durch die Kontextualisierung als das Milieu eines pietistischen Mystizismus verstehbar wird.

Christian Friedrich Richters "Lied eines Krancken"

Eine Analyse von Richters "Lied eines Krancken" (1714/1718) (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") zeigt auf, mit welchem Ziel Büchner das pietistische Lied überarbeitet hat.

Bei Richter verweist das Leiden auf die "Herrlichkeit, die uns offenbart werden wird" (Anz 1981, 60). Büchner verändert dabei die Textaussage: Nun ist das Leiden kein kurzfristiger, überwindbarer Zustand mehr, sondern wird zu einem letzten und positiven Lebensinhalt. Büchner wendet hier das Verfahren einer karikierenden Zuspitzung protestantisch-pietistischer Leidensfrömmigkeit an.

"Dadurch, dass er die auf das einst der Erlösung verweisende adverbiale Zeitbestimmung 'jetzt' durch das Indefinitpronomen 'all' ersetzt und die Feststellung durch das optative 'sey' zum Wunsch steigert wird der in Richters Lied gemeinte Bezug zur Transzendenz aufgehoben und das Leiden zu alleinigen und allzeitigen 'Herrlichkeit'" (Anz 1981, 60). Büchner unterzieht das Lied einem "poetischen Verfahren der Umdeutung" (Anz 1981, 61). Am Ende steht nicht mehr ein Verlangen nach Erlösung, sondern ein "Verlangen nach Leiden" (ebenda). 

Zeitgenössische Satiren über den Pietismus

Die Satiren über das von Jung-Stilling geprägte pietistische Milieu, in dem sich Lenz bewegt, eröffnen einen Blick darauf, in welcher Weise das Wirken Jung-Stillings in der zeitgenössischen Öffentlichkeit thematisiert wurde:

Carl Heinrich Georg Venturini (1768-1849) resümiert 1821 die Wirkung von Jung-Stillings Schriften auf den schwedischen König (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") und unterstreicht die Folgen der Lektüre von Jung-Stillings "thörischen" Schriften und der von Stilling empfohlenen Lektüre der Apokalypse auf Gustav den IV., die diesen "wundersüchtig" gemacht haben sollen.

Spott über Jung-Stilling

Ein Text des einflussreichen Vormärz-Autors Ernst Moritz Arndt (1769-1860) aus dem Jahr 1839 verdeutlicht, dass der Spott über Jung-Stilling weit verbreitet war. Arndt erinnert an Bildsatiren auf den schwedischen König Gustav Adolf IV, die diesen Jung-Stilling lesend zeigten (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen").

Bei Büchners Zeitgenossen Friedrich Nork (1803-1850)  findet sich in einem Text aus dem Jahr 1835 eine ausführliche satirische Auseinandersetzung mit Stillings Bibellektüre und Weltuntergangsprophezeiungen (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen"). Norks satirische Streitschrift ist eine Auseinandersetzung mit Jung-Stillings Buch "Siegesgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnützigen Erklärung der Offenbarung Johannis" aus dem Jahr 1799, die 1835 bei Scheible in Stuttgart neu aufgelegt wurde, und den darin enthaltenen "grässlichsten Prophezeiungen". Der Autor der Satire nimmt sich vor, "aus dem Jung-Stillingschen Sprachrohr den Feuerlärm zu blasen" (Nork 1835, III).

Religionskritik zeitgenössischer politisch liberaler Psychologen

Zeitgenössische politisch liberale Psychologen, deren Schriften Büchner bekannt waren, weisen der Religion eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Wahnvorstellungen zu (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen").

Kontext 3: Zeitgenössische Bibellektüren als sozial-revolutionäre Botschaft bei Lamennais und Büchner

Liest man "Lenz" im Kontext der zeitgenössischen sozialkritisch bis revolutionären Bibellektüre, so wird wird deutlich, welche Denk- und Handlungsalternativen im Umgang mit Religion und Elend Büchner vor Augen hatte: Büchner ging davon aus, dass das Leiden von gläubigen Christen nicht hingenommenen werden musste und dass es unter Berufung auf biblisch-religiöse Texte infrage gestellt werden konnte.

Félicité-Robert de Lamennais (1782-1854) 

Einer der Theologen, die die Bibel wie Büchner als sozial-revolutionäre Botschaft lasen und diese Lesart publizierend verbreiteten, war der französische Abbé Félicité-Robert de Lamennais (1782-1854), dessen Schrift "Paroles d'un croyant" (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") kurz vor Büchners Arbeit am "Hessischen Landboten" und an "Lenz" in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht wurde. Er vertrat die Ansicht, das Christentum berge die Kraft in sich, Freiheit und soziale Gleichheit realisieren zu können.

Im Kontext von und im Vergleich mit Lamennais' Bibellektüre wird deutlich, dass es sich bei der Bibellektüre von Oberlin und Lenz um eine ganz spezifische Auslegung der Bibel handelt, die von jeglicher sozialen Umgestaltung Abstand nimmt und stattdessen eine die sozialen Verhältnisse stabilisierende, frömmige Innerlichkeit fördert. Das Leid soll ertragen, der Schmerz empfunden und nicht durch eine Umgestaltung der Gesellschaft beendet werden, um im Diesseits bereits für ein gutes Leben zu sorgen.

Büchners Arbeit am "Hessischen Landboten"

"Lenz" kann und muss auch im Kontext von Büchners Arbeit am "Hessischen Landboten" gelesen werden, den er 1834, im Jahr vor seiner Flucht nach Strasbourg und im Jahr vor seiner Beschäftigung mit "Lenz", gemeinsam mit Ludwig Weidig verfasst hat. Deutlich wird hier, dass sich Büchner wie Lenz und Oberlin mit der Frage befasst, wie der an Verelendung leidenden Bevölkerung zu helfen wäre.

Wie Lenz arbeitet auch Büchner für kurze Zeit mit einem Pfarrer, Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837), zusammen und nutzt eine christlich-biblisch geprägte Sprache. Anders als Lenz und Oberlin verfolgt das Duo Büchner und Weidig jedoch das Ziel, durch die Nutzung einer christlich-biblisch geprägten Sprache die Bauern davon zu überzeugen, dass das Leiden nicht hinnehmbar und eine Umgestaltung der Gesellschaft Gottes Wille ist. 

Büchners Brief an Gutzkow vom Januar 1836

In Büchners Brief an Gutzkow vom Januar 1836 (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") zeigt sich, dass Büchner im Jahr der Entstehung von Lenz intensiv über den Zusammenhang von Leiden, Religion und Revolution nachdenkt. Seiner Überzeugung nach gibt es für die Mobilisierung zu einer Überwindung des Leidens nur zwei Hebel: "materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht" werde siegen.

In "Lenz" zeigt sich, dass das materielle Elend und der religiöse Fanatismus von Lenz und Oberlin ohne eine politische Perspektive nicht in eine Überwindung des Leidens münden, sondern in dessen Perpetuierung.

Der Hessische Landbote

Mit dem Auszug aus dem Hessischen Landboten (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") kann gezeigt werden, wie sich Büchner das Ansetzen eines "religiösen Hebels" vorstellt, wie er ihn sprachlich realisiert: Die von ihm mit Weidig verfasste Flugschrift klagt die skandalöse steuerliche Auspressung der armen Bauern und Handwerker in Hessen in biblisch-religiöser Sprache an.

Die biblische Metaphorik zielt auf Empörung und soll zu revolutionären Handlungen aufrufen. "Büchner vertrat demnach die Ansicht, die Flugschrift müsse ihre Überzeugungsgründe aus der Religion des Volkes schöpfen, mit den einfachen Bildern und Wendungen des Neuen Testaments müsse man 'die heiligen Rechte der Menschen' erklären. Dieser Strategie folgend, werden die Fürsten im 'Hessischen Landboten' mit Hilfe des Judas-Bildes als Verräter dargestellt und diejenigen, die ihnen dennoch folgen, als 'Götzendiener'. Um den Volksglauben daran zu untergraben, dass die Herrschenden von Gott geweiht seien, verkündet der 'Hessische Landbote' eine Botschaft der Egalität, die Gott als Instanz versteht, vor der alle gleich sein müssten, um schließlich zu begründen, dass eine nicht demokratisch legitimierte Herrschaft des Teufels sei" (Hanloser 2013).

Religiöse Metaphorik als volkstümliche politische Sprache

Ein Auszug aus einem literaturwissenschaftlichen Sekundärtext (siehe Arbeitsblatt 3 in der Unterrichtseinheit "Georg Büchners 'Lenz' genau lesen") erläutert die hinter der Nutzung biblischer Metaphorik wirksam werdende rhetorische Strategie einer volkstümlichen politischen Sprache, um die eigene Position für die Bauern glaubwürdig zu machen.

Lenz verlangt in Allem […] Möglichkeit des Daseins

Die Predigt-Passage kann dann im weiteren Verlauf des Textes, im Kunstgespräch, weiterführend betrachtet werden. Hier formuliert Lenz eine Kunsttheorie als deren zentraler Inhalt sich seine Suche nach einer Beendigung des Leidens erweist. Lenz "verlangt‚ in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut".

Wird Büchner nicht nur als avantgardistischer realistischer Künstler, sondern als ein politisch denkender Autor verstanden, der für die Verfolgung seines Zieles einer sozial gerechten Gesellschaft ins Exil gezwungen wurde, dann liest sich diese Passage als weit mehr als eine platte Realismusforderung für die Kunst. Sie bezeichnet "vor allem den in den Bereich der Kunst transponierten Anspruch auf eine auch humane Lebenswirklichkeit" (Ueding 1976, 121).

Worin unterscheidet sich nun die Verwendung der biblischen Sprache im "Lenz" und im "Hessischen Landboten"?

"Lenz" zeigt einen Protagonisten, der in einen "messianischen Wahn" (Ueding 1976, 124) gerät und versucht, das Leiden der Menschen zunächst durch eine Predigt und dann durch das Erwirken einer Wunderheilung gen Himmel zu leiten. Er agiert in einer von biblischer Sprache geleiteten Handlungslogik bis hin zu einer völligen Selbstauflösung durch eine Identifikation mit Jesus und eine darauf folgende Absage von Gott.

Von der tätigen Lebensweise als Begleiter des pietistischen Pfarrers Oberlins, die zu Beginn einen beruhigenden Einfluss auf Lenz ausübt, "führt ein gerader Weg über seine Predigt bis zum allein unternommenen Versuch der Kindeserweckung" (Ueding 1976, 126). Lenz' "religiöse Ekstase" (ebenda, 126) ist eine Identitätserfahrung. Sie führt dazu, dass er die engen Grenzen seiner Handlungsfähigkeit erfährt.

Lenz entscheidet sich für eine rein idealistische "Agitation". Seine Predigt scheitert und endet ihm Wahnsinn, weil er anders als Büchner nicht auf eine sozial-politische Umgestaltung der Gesellschaft zielt und damit nicht auf die reale Gesellschaft bezogen handelt.

"Literatursoziologische Literaturwissenschaft" als Fachbegriff

Es sind vor allem die sich der Deutungslogik einer literatursoziologischen Literaturwissenschaft verpflichtet sehenden Studien, die auf den religionskritischen Aspekt hinweisen, ihn aber nur dann explizit und präzise erkennen und benennen können, wenn sie sich die Mühe machen, den Text historisch konkret in den Kontext von anderen Diskursen zu stellen.

Dies gelingt dann, wenn der Text nicht benutzt wird, um die Gültigkeit soziologischer Theorien zu beweisen (so zum Beispiel die Modernisierungsthese bei Großklaus 1982) oder um seine Aktualität als Vorläufer der literarischen Moderne zu behaupten, sondern wenn Büchner und seine Zeit so konkret wie möglich in den Blick genommen werden (Poschmann 1983, 164).

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  • Teil VI dieses Artikels befasst sich mit der rezeptionsbezogenen Deutung von Georg Büchners "Lenz".

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