Die Debatte um die Lektüre des Köppen-Romans "Tauben im Gras"
Der Fachartikel beleuchtet den Roman Köppens im Licht der Debatte, die die Weigerung einer Lehrerin hervorgerufen hat, ihn – wie in Baden-Württemberg curricular vorgesehen – im Unterricht zu lesen und zu besprechen. Er skizziert die Problematik, die einerseits zu dieser Weigerung geführt hat und andererseits die Problematik, die die Verfasserinnen dieser Einheit – auch – sehen: dass dabei zu wenig über den Text gesprochen wird, noch weniger über seinen unmittelbaren Kontext. Die dem Artikel beigelegte Unterrichtseinheit will eine Positionierung in der Debatte ermöglichen, indem sie sie "verfachlicht" und damit fundiert. Dabei soll – neben kontroversen Positionen – der Text, um den es geht, zu Wort kommen und befragt werden.
Worum geht es bei der Köppen Debatte?
Die Aufmerksamkeit, die die Köppen Debatte erzielen konnte, lässt sich vermutlich nur eingeschränkt mit der Tatsache erklären, dass es sich bei "Tauben im Gras" um einen Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur handelt. Die Aufmerksamkeit wurde sicher dadurch erhöht, dass die Weigerung der Lehrerin, diesen Roman zu lesen (vergleiche Unterrichtsmaterial M1), die Missachtung einer Weisung der Behörde ist, der die Lehrerin untergeordnet ist. Aber auch das hätte vielleicht noch nicht zu dieser Resonanz geführt, vielmehr ist die Kritik und letztlich die Weigerung der Kollegin auch Ausdruck hochaktueller Diskurse, die in der Öffentlichkeit geführt werden, nämlich Rassismus- und Identitätsdiskursen.
An der Debatte fällt auf – oder könnte auffallen –, dass ihr eigentliches Thema, der Roman Köppens, nicht Thema der Debatte ist, jedenfalls nicht in dem Maß, in dem das notwendig wäre, würde man ernsthaft prüfen wollen, ob der doch schwerwiegende Vorwurf des Rassismus ausgerechnet Wolfgang Köppen gegenüber gerechtfertigt ist.
"Tauben im Gras": Der Text unter der Lupe
Auch die vorliegende Unterrichtseinheit leistet eine solche sorgfältige Prüfung nur in Ansätzen, aber indem sie es exemplarisch tut, will sie Schülerinnen und Schüler veranlassen, gewissermaßen als übergeordnetes Lernziel und ganz im Sinne von Brechts Sieh selber nach! ("Lob des Lernens") die Notwendigkeit des Überprüfens – oder wenigstens Nachsehens und Nachdenkens – zu sehen, insbesondere dann, wenn die Fragen, um die es geht, die Gemüter erhitzen.
Das konkretere Lernziel ergibt sich aus der Lektüre des Primärtextes in Ausschnitten, aus dem Gespräch über die Lektüre und aus der Analyse der Lektüre: Die Analyse der beiden Textstellen ergibt, in aller Kürze, dass dort – tatsächlich – rassistisch denkende und handelnde Menschen am Werk sind (Textwelt), die allerdings als solche erkannt werden sollen und können (Textintention), insbesondere wenn darüber hinaus deutlich erkennbar ist, dass die innerhalb der Textwelt vom Rassismus Betroffenen sich dadurch auszeichnen, dass sie der Charakterisierung, denen sie unterworfen sind, in keiner Weise entsprechen. Sie ergibt, dass die Welt, die gezeigt wird, eine ist, die unter anderem durch Rassismus geprägt ist, sie ergibt nicht, dass der Text das für gut und richtig befindet, auch wenn er auf einen erklärenden, wegweisenden Erzähler(kommentar) verzichtet. Dennoch werden auf Textebene distanzierende Mittel deutlich, wenn man denn hinschaut: So muss beispielsweise auffallen, dass Washington, immer wieder Adressat des N-Wortes, der so ziemlich einzig integre Charakter des Textes ist; so müsste auffallen, dass die Phantasie Claras von vergewaltigenden Farbigen ihre Phantasie ist, dass sie ein verinnerlichtes rassistisches Bild entäußert.
Zu erwartende Reaktionen der Schülerinnen und Schüler
Zu erwarten ist, dass die Schülerinnen und Schüler sich dem Primärtext gegenüber verhalten zeigen, möglicherweise kritisch, denn das Bild, das von den farbigen Soldaten dort gezeichnet wird, ist ein herabwürdigendes; es ist nicht zu erwarten, dass die Schülerinnen und Schüler unmittelbar erkennen, um wessen Bild es sich dabei handelt, sie werden es vermutlich in der Tendenz für das des Autors oder des Textes halten. Da gilt es genauer hinzuschauen, etwa mit den Fragen, die die Textanalyse (M5) vorsieht.
Sie werden möglicherweise die Uneindeutigkeit der "Botschaft" des Romans (zu Recht?) kritisieren: Warum sagt der Text nicht deutlich(er), was er sagen will? Oder: Warum legt er sowas überhaupt jemandem in den Mund – es ist doch rassistisch?
Eine Antwort darauf kann sein: Eben weil es rassistisch ist, legt er es Figuren in den Mund – um es zu zeigen. Ohne es zu zeigen, sieht man es nicht. Eine glasklare Gegenpositionierung zeichnet sich nicht ab, das ist richtig – durch wen sollte das geschehen? Und vor allem warum? In der Welt, die "Tauben im Gras" rekonstruiert, hat sich niemand klar (genug) gegenpositioniert, sonst wäre vielleicht nicht geschehen, was geschehen ist. Es ist, mit anderen Worten, erzählerisch konsequent, dass hier niemand Einhalt gebietet.
Das ist eine Antwort; allerdings eine, mit der man sich nicht unbedingt zufriedengeben muss.
Es mag ein Exkurs im Zusammenhang mit M5 notwendig und sinnvoll sein, der deutlich machen kann, dass die im Roman rassistisch Sprechenden ziemlich genau die sind, deren Handeln zum Holocaust geführt hat. Die Stellungnahmen der FAZ und Süddeutschen ließen sich hier punktuell neu aufgreifen.
Die Erkenntnisse, die die Textanalyse also hervorbringen kann, können und sollen nicht darüber hinwegtäuschen – oder einen Austausch darüber verhindern –, dass Leserinnen und Leser sich abgestoßen oder sogar "gemeint" fühlen können und so Herabwürdigung und Diskriminierung erleben.
Die Relevanz der Diskussion
Die Relevanz des Themas ergibt sich zunächst aus seiner Aktualität. Das Engagement der Lehrerin gegen die Lektüre des Köppen Romans ist nur wenige Monate alt, wurde und wird kontrovers in einer relativ breiten Öffentlichkeit diskutiert. Eine noch größere Relevanz erhält das Thema jedoch dadurch, dass es auch als Ausdruck eines sehr viel breiteren Diskurses rund um "(nicht) Sagbares" zu verstehen ist, und zwar auch in der Kunst, vor allem in DER Kunst, die auch in der Schule verhandelt wird und/oder in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ihren Platz hat (hier sei, unabhängig von weiteren qualitativen Unterschieden, auf die hier nicht eingegangen werden muss, verwiesen auf die momentan auch aktuellen Debatten um "Jim Knopf", "Winnetou" oder "Layla"), eingebettet wiederum sind diese Diskurse in Identitäts-, Rassismus- und Genderdiskurse. Gemeinsam ist diesen Diskursen, dass es in ihnen grundsätzlich um den Schutz und die Ermächtigung derer geht, die von Diskriminierung betroffen sind und deren Diskriminierung und Entwürdigung sich im Konsumieren fremden-, frauen- und letztlich menschenfeindlichen Werken zu verfestigen und stabilisieren droht. Also sind es notwendige Diskurse.
Bedingt durch die jedem Diskurs eigene Kontroversität rufen sie allerdings Emotionen und daher nicht immer rationale Reaktionen hervor.
Aufgabe der Schule muss es daher auch in diesem Zusammenhang sein, erste zu verstehen und letzte hervorzubringen, und zwar vor dem Hintergrund ihres humanistischen Menschenbildes, also nicht wertfrei.
Das versucht die vorliegende Unterrichtssequenz, indem sie die potentielle Emotionalisierung zwar durchaus – bedingt durch die Kontroversität, die didaktisch und methodisch konsequent aufrechterhalten wird – hervorruft, sie aber gleichzeitig kognitiv zu kanalisieren versucht, und zwar weitgehend in der Forderung an die Schülerinnen und Schüler, sich dem Diskurs argumentativ zu öffnen und zu stellen.
Lernziele zu Köppens "Tauben im Gras"
Allein deshalb kann das Lernziel nicht sein: Die Schülerinnen und Schüler befürworten die Lektüre dieses Romans; das Lernziel kann aber sein: Die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass der Vorwurf einer rassistischen Autor- oder Textintention auf der Basis der Analyse zweier repräsentativer Textstellen nicht haltbar ist, weil nachgewiesen werden kann, dass die im Roman rassistisch Handelnden im Wesentlichen zitiert und porträtiert werden. Als falsch gekennzeichnet wird ihr Verhalten nicht – zugegeben – durch direkte Entkräftigung durch den Autor, sondern durch erzählerische Mittel der Distanzierung, die die offensichtliche Inhumanität deutlich werden lassen, zu der Erkenntnis also führen, dass es so ist, aber nicht sein dürfte oder sollte.
Insofern will die vorliegende Unterrichtseinheit zwar den Vorwurf des Rassismus an den Roman entkräften, auch als Lernziel, aber nicht die Vorbehalte gegen seine Lektüre.
Der weiterhin im Raum stehende Vorwurf, dass die Sprache des Romans, selbst wenn er denn nicht rassistisch "gemeint" ist, so doch durch die Häufung rassistischer Begriffe ihrer Verwendung Vorschub leistet, wird hier nicht ausführlich behandelt, aber auch das ist eine Anklage, die – verfolgt man sie weiter – künstlerischen Ausdruck in einer Weise reglementiert, die Kunst in ihrem Anspruch im Kern trifft (die eine oder andere Dystopie hat das durchbuchstabiert: Orwells 1984 und auch Huxleys Brave New World). Es ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass diese These insbesondere in den Diskussionen der Lerngruppe (vergleiche Materialien der zugehörigen Unterrichtseinheit) kontrovers besprochen wird.
Letztlich verfolgt die Sequenz aber auch die Absicht, sich so gut informiert wie möglich zu positionieren und dieser Position angemessenen Ausdruck zu geben, daher die, etwa in M3,4,6.., immer wiederkehrenden Irritationen, die eine vorschnelle Festlegung, ein Be- oder Verharren, verhindern wollen. Sie verfolgt weiterhin die Absicht, im Format des materialgestützten Schreibens (M8), eine eigene Position als "Beitrag zur Debatte" zu verfassen. Das Verfassen eines Debattenbeitrags verfolgt so den Anspruch des inhaltlichen Lernens, der "inhaltlichen Funktionalität" (Zabka 2022: 31) und den der "individuellen Bedeutsamkeit" (Leßmann 2020:26ff), die dann (eher) gegeben ist, wenn das zu behandelnde Thema zu einem "eigenen" Thema geworden ist – worauf die Unterrichtssequenz angelegt ist.
Literaturverzeichnis
Monographien:
Herbst, Alban N. (2012). Schöne Literatur muss grausam sein. Berlin: Kulturmaschinen Verlag.
HKM (2022). Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe DEUTSCH.
Koeppen, Wolfgang (1980). Tauben im Gras. Stuttgart: Suhrkamp.
Lessmann, Beate (2020). Autorenrunden: Kinder entwickeln literale Kompetenzen. Münster: Waxmann.
Matt, Peter von (2017). Was ist ein Gedicht? Stuttgart: Reclam.
Artikel in Sammelbänden:
Sanyal, Mithu (2023). "Enid Blyton, oder: Gibt es ein richtiges Leben im Falschen?". In: Domainko, Heyl, Kessler, Lendle, Oswald. Canceln-Canceln-Canceln. Ein notwendiger Streit. München: Hanser. 147–171.
Artikel in Zeitschriften:
Buxinski, Darlene und Cornelius Herz (2023). "Ist Kunstautonomie eine Nervensäge? Wertevermittlung und Fachkultur im Literaturunterricht aus der Sicht von Deutschlehrkräften". In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 1. 82–108.
Zabka, Thomas (2017). "Zu Anforderungen und Gefahren des textinformativen verarbeitenden Schreibens". In: Didaktik Deutsch 42. 26–31.
Online-Artikel:
"Alternative zu Koeppen". SZ. Online: www.sueddeutsche.de/kultur/wolfgang-koeppen-anna-seghers-abitur-baden-wuerttemberg-lektuere-1.6001168
Kiyak, Mely. Zeit. Online: www.zeit.de/kultur/2016-11/political-correctness-uebertreiben-kiyaks-deutschstunde
Klute, Hilmar. "Wer hier verroht ist". Süddeutsche Zeitung. Online: www.sueddeutsche.de/kultur/koeppen-rassismus-sprache-tauben-im-gras-1.5778775
Köhler, Sigrid. "Aus Fehlern darf gelernt werden". TAZ. Online: taz.de/Rassismus-in-Tauben-im-Gras/!5921779/
Solt, Rüdiger. "Kultusministerin will weiter Köppen lesen lassen". Faz.net. Online: www.faz.net/aktuell/politik/inland/bawue-tauben-im-gras-soll-schullektuere-bleiben-18767608.html
Wiele, Jan. "Debatte um Köppens Tauben im Gras entbrannt". FAZ. Online www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/streit-um-koeppens-roman-tauben-im-gras-als-schullektuere-18797928.html
Weiterführende Literatur
Chirollo, Natalie und Achim Schröder (2017). "Literarisches Verstehen durch 'genaues Lesen'" (Lehrer-Online-Fachartikel über das literaturdidaktische Modell des "genauen Lesens"
Domainko, A., Heyl, T., Kessler, F., Lendle, J., Oswald, G.M. (2023) Canceln-Canceln-Canceln. Ein notwendiger Streit. München: Hanser.
Arbeitskreis Jugendliteratur (2022). Cancel Literature. Alte und neue Grenzen des Darstellbaren (1/22).
Kreft, Jürgen (2019). Bildung und Unbildung-Verstehen und Missverstehen…. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.
Das Modell "Literarischen Verstehens durch genaues Lesen"
- lehrer-online.de
Der Fachartikel konzentriert sich auf die schulische Lektüre literarischer Texte; das literarische Gespräch wie es in der vorliegenden Unterrichtssequenz durchgeführt wird, findet sich dort ausführlich begründet.