Brechts "Entdeckung an einer jungen Frau" genau lesen

Fachartikel

Dieser Fachartikel zu Brechts "Entdeckung an einer jungen Frau" (1925) beruht auf dem literaturdidaktischen Modell des "genauen Lesens" (Chirollo/Schröder, 2017). Er erläutert die fachdidaktischen Überlegungen, die der Unterrichtseinheit zu dem Gedicht zugrunde liegen. Eine ausführlichere Download-Version des Fachartikels vertieft die hier skizzierten fachdidaktischen Darlegungen.

Im Zentrum einer Behandlung des Gedichts "Entdeckung an einer jungen Frau" (1925) steht in der Regel sinnvollerweise die Frage, ob es sich bei diesem Gedicht um ein Liebesgedicht handelt oder um ein Gedicht, das ein Begehren thematisiert, um auf etwas anderes hinzuweisen. Während dieser Artikel den Hintergrund für die Auseinandersetzung im Unterricht liefert, sind konkrete Arbeitsaufträge in der dazugehörigen Unterrichtseinheit Brechts "Entdeckung an einer jungen Frau" genau lesen.

Exemplarisches Arbeiten an einer Kernfrage

"Bahnt sich nach der Entdeckung eine Liebesbeziehung zwischen dem lyrischen Ich und der jungen Frau an?" So lautet die auf eine befremdliche Lese-Erfahrung bezogene zentrale Fragestellung, die von Lesenden häufig so oder ähnlich gestellt wird und über die auch in der Rezeption des Gedichts Uneinigkeit herrscht. Das Befremden oder die Irritation wird dadurch ausgelöst, dass im Text nach einer sexuellen Begegnung eine geplante kühle Verabschiedung nicht vollzogen wird. Die Entdeckung eines grauen Haares an der nicht mehr ganz so jungen Frau berührt das lyrische Ich so sehr, dass die Entscheidung des Paares, nur für eine Nacht zusammen zu bleiben, aufgegeben wird.

Entwickelt sich hier nun Liebe oder steht weiterhin "nur" Begierde im Vordergrund?

Es ist diese Frage, die in Literarischen Gesprächen zum Gedicht häufig als Hypothese im Raum steht und in der folgenden Textanalyse beantwortet werden soll.

1. Die textimmanente Analyse

Bei einer auf diese Frage bezogenen textimmanenten Analyse durch genaues Lesen kann zunächst erarbeitet werden, dass von den Protagonisten des Gedichts zunächst geplant war, einen "nüchternen Abschied" nach gemeinsam verbrachter Nacht zu vollziehen. "Nüchtern" unterstreicht das Fehlen von Gefühlen und bedeutet nicht "ernüchtert". Die beiden, die die Nacht miteinander verbracht haben, betrachten sich kühl. Sie scheinen keinerlei Gefühle füreinander zu haben. Der Abschied aber wird deshalb nicht wie "gedacht" vollzogen, weil das lyrische Ich sich "nicht entschließen mehr (kann) zu gehn" - und zwar, nachdem es eine graue Strähne im Haar der Frau bemerkt. Diese "Entdeckung", die den "nüchternen Abschied" unmöglich macht, wird betont, "Da sah ich:", sie wird hervorgehoben durch den Doppelpunkt und die ihm folgende Erklärung: "eine Strähn in ihrem Haar war grau". Verglichen etwa mit der faktisch identischen Aussage, "Da sah ich, dass eine Strähne in ihrem Haar grau war", wird die Wucht der Entdeckung durch den Doppelpunkt verdeutlicht.

Irritation

Die Kühle dieses Abschieds - oder ihr Betonen - irritiert bereits, denn sie widerspricht den Gewohnheiten und dem Moralempfinden einer großen Zahl von Leser und Leserinnen: Man verbringt in der Regel eine Nacht miteinander, wenn man sich - in welcher Weise auch immer - liebt, "um sich zu lieben". Die Irritation setzt sich fort, wenn es im Gedicht heißt:

"Stumm nahm ich ihre Brust,..." (V5) und "...es verschlug Begierde mir die Stimme." (V14).

Deutlich wird hier, dass es im Wesentlichen körperliche, triebhafte Begierde ist, die an Stelle der Nüchternheit tritt. Eine Irritation wird wohl durch die Direktheit und das Unumwundene ausgelöst, die unserer Erwartung an ein Liebesgedicht widerspricht. Und auch, weil die Begierde in Widerspruch zu der eingangs festgestellten Kühle steht und als unangemessene Reaktion auf diese Entdeckung erscheint. Man erwartet eher, dass der Entdeckung der Tatsache, dass der Andere (und also man selbst auch) sichtbar altert, altruistischer begegnet wird oder dass das Altern des Gegenüber das Begehren mindern könnte. Hier aber steigert das Altern die Begierde.

Ein Gedicht über die Vergänglichkeit

Eine textimmanente Analyse des Gedichts kann zeigen, dass die irritierenden Zeilen die "Antwort" des lyrischen Ich auf die Vergänglichkeit im Allgemeinen (und nicht die der Frau im Gedicht) darstellen. Begehren und das Nutzen der Zeit werden im Text als angemessene Reaktionen auf die Tatsache der Vergänglichkeit deutlich. Die Begierde ist zu verstehen als an sich zu "nützende" der Vergänglichkeit entgegen wirkende Kraft, was angesichts der gewonnenen Erkenntnis - "daß du vergehst" - auch durch die Wahl des Anredepronomens eine andere Qualität von Beziehung bewirkt: Die Kühle und die Nüchternheit der 1. Strophe weichen einem intensiven Gefühl. Allerdings ist weiterhin nicht von Liebe die Rede.

2. Die kontextbezogene Analyse

In ähnlicher Weise wie "Entdeckung an einer jungen Frau" irritiert beispielsweise das ebenfalls in den frühen 20er Jahren entstandene Gedicht Brechts "Erinnerung an die Marie A", das als Kontext des Gedichtes gelesen werden kann. Eine melancholische und daher emotionale Grundstimmung, die schon durch den Titel - er suggeriert unmittelbar eine verflossene Liebe - deutlich wird, wird aufrecht erhalten durch die Erzählhaltung, die insgesamt eine rückblickend-melancholische ist und mehrfach auf die Flüchtigkeit des glücklichen Moments verweist:

"Und als ich aufsah, war sie nimmer da", "Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer/Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst".

Vom Vergänglichen (der Frau und der Liebe) wendet sich das lyrische Ich in "Entdeckung an einer jungen Frau" ab, indem es ihm Begehren entgegensetzt. Hier huldigt das lyrische Ich - anstatt in intensiver Begierde in melancholischerer Diktion - dem genossenen Moment, für den die Wolke steht.

Auch in "Erinnerung an Marie A" steht das Thema des Vergänglichen im Zentrum. Hier wendet sich das lyrische Ich in Form einer Huldigung an Marie A. Die Erinnerung an den mit ihr genossenen Moment erweist sich stärker als die Vergänglichkeit. Auch hier geht es im Kern nicht um Liebe, sondern eben um Vergänglichkeit. Im Kontext der Fragestellung bleibt festzuhalten: Der Vergänglichkeit in beiden Gedichten wird in Abwehr derselben, mit Begehren und Huldigung des genießenden Augenblicks begegnet.

3. Die rezeptionsbezogene Analyse

Die Auseinandersetzung mit anderen Deutungen eines Textes stellt eine im Literatur-Unterricht erarbeitete Deutung immer in Frage, vermag diese Deutung zu erschüttern, aber auch zu festigen, sie vermag außerdem die Erkenntnis darüber anzubahnen, dass persönliche Interessen und Überzeugungen möglicherweise "textaneignende" (Tepe/Rauter/Semlow 2017) Deutungen hervorbringen.

Die Kühle und Nüchternheit in Brechts Gedicht werden in der literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur überraschenderweise höchst unterschiedlich gedeutet: als "Rettung des Partners" durch das erneute Begehrens bei Alfred Behrmann (1983), als verweigerte Individualität der Frau bei Jan Knopf (1984) und als ein Weg hinein in einen "gemeinsamen Raum" bei Härle (2006).

Schülerinnen und Schüler können durch die kritische Auseinandersetzung mit diesen drei Deutungen erkennen, dass die Bedeutungsoffenheit literarischer Texte auch Grenzen hat. Es gibt Deutungen, die durch das genaue Lesen eines Textes deutlich nachweisbar als textfern bezeichnet werden können.

Literatur

Behrmann, Alfred (1983): "Denn wir vergaßen ganz, daß du vergehst". Zu Brechts Sonett Entdeckung an einer jungen Frau, in: Hartung, Harald (Hg.): Gedichte und Interpretationen: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte, Stuttgart: Reclam, 266-276.

Chirollo, Natalie und Achim Schröder (2017): Literarisches Verstehen durch "genaues Lesen": ein Drei-Phasen-Modell zur Planung von Literaturunterricht. Wiesbaden: Lehrer-Online. 

Härle, Gerhard (2007): Lyrik-Liebe-Leidenschaft. Lyrik-Liebe-Leidenschaft: Streifzug durch die Liebeslyrik von Sappho bis Sarah Kirsch, Göttingen: Vandehoeck & Rupprecht.

Knopf, Jan (1994): Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften, Stuttgart: Metzler.

Mennemeier, Franz Norbert (1982): Bertolt Brechts Lyrik, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag.

Tepe, Peter, Jürgen Rauter und Tanja Semlow (2017): "Regeln und Empfehlungen für die kognitive Textarbeit". In: Erklärende Hermeneutik. Düsseldorf: Mythos-Magazin. Online

Waldmann, Günter (2003): Neue Einführung in die Literaturwissenschaft. Aktive analytische und produktive Einübung in Literatur und den Umgang mit ihr - Ein systematischer Kurs, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Ausführliche Version des Fachartikels "Brecht genau lesen"

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Dieser Beitrag wird in Kooperation mit Dr. Achim Schröder angeboten.

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