Literaturdidaktische Konsequenzen
"Vor die literarische Kritik haben die Götter die genaue Lektüre gesetzt", so bemerkt Christoph Bode ironisch über das Schicksal von Aldous Huxley häufig missverstandenem Roman "Brave New World", denn dass "es notfalls auch ohne geht, belegt die Behandlung, die Huxleys Büchern in sechs Jahrzehnten durch Literaturwissenschaftler und professionelle Literaturkritiker zuteil geworden ist" (Bode 1985, 103). Aus den hier vorgestellten Überlegungen sollten sich literaturdidaktische Konsequenzen im Umgang mit Camus‘ "L’Étranger" ergeben, um zu verhindern, dass Camus' Roman weitere sechs Jahrzehnte missverstanden wird.
Die Deutung des Romans als "roman absurde" von Beginn an problematisieren und durch genaues Lesen kritisch überprüfen
1. Der üblichen Deutung, nach der es sich bei "L'Étranger" um einen "roman absurde" über einen "une vie absurde" führenden "héros absurde" handle, der in einer "société absurde" über "rites absurdes" nachdenke, da er nach einem "meurtre absurde" Opfer einer "justice absurde" geworden sei (Ansel 2012, 136), werden Lesende in sogenannten Lektüreschlüsseln (Kemmner 2004, Keiser 2001) mit Sicherheit vor Beginn oder während des Interpretationsprozesses begegnen. Sie ist deshalb von Beginn an mit der Lerngruppe als "manières de ne pas lire" (Ansel 2012, 137) zu problematisieren, um sie einer kritischen Überprüfung durch eine "lecture littérale" (Ansel 2012, 189) durch ein genaues Lesen des Romans zu unterziehen. Durch genaues Lesen kann erkannt werden, dass Meursault das Leben eigentlich nicht als absurd begreift, sondern als lebenswert.
Charakterisieren im sozial-geschichtlichen Kontext auf der Suche nach einem Sozialcharakter
2. Ein genaues Lesen von Camus' "L’Etranger" kann an die schulische Tradition der "Charakterisierung" anknüpfen, die legitimerweise zumeist den Kern der schulischen Auseinandersetzung mit literarischen Texten ausmacht, weil sie Prüfungsanforderung einer Abiturprüfung ist. Diese Tradition sollte genutzt werden, um Meursault nicht als einzigartiges Individuum, sondern als Beispiel eines für seine Zeit und Gesellschaft typischen Sozialcharakters verstehbar zu machen: "Meursault est un macho standard qui trouve normal le comportement violent et insultant de Raymond" (Ansel 2012, 132). Und "C'est pourquoi Camus avait songé à plusieurs sous-titres: 'ou La pudeur ou Un homme heureux, ou Un Homme libre ou Un Homme comme les autres'"(Ansel 2012, 128). Die soziale Gruppe, deren typischen Sozialcharakter Meursault verkörpert, sind die im Algerien der dreißiger Jahre lebenden "kleinen Kolonisatoren", die "Algériens de souche européenne", die den Arabern, welche sich gegen deren Kolonialherrschaft zunehmend selbstbewusst auflehnen, als Fremde gegenüberstehen.
Die Logik hinter kontroversen Rezeptionen analysieren
3. Anhand der Mordszene kann durch genaues Lesen die "Logik" (Bode 1985, 105) von kontroversen Interpretationen analysiert werden. Gefragt werden muss, wie literarische Rezeption Bedeutungskonstruktionen leistet. Untersucht werden sollte, welche Faktoren das Lesen bestimmen und an die Stelle eines genauen Lesens das Nicht-Lesen, das Verlesen, das Überlesen und das dem Text Dinge Andichten setzen. Dabei gilt es, die zentrale Frage zu klären, warum die im Text bei genauem Lesen klar erkennbaren kolonialen Gewaltverhältnisse über lange Zeit überlesen worden sind und erst durch die Veröffentlichung eines literarischen Textes, Kamel Daouds "Meursault: contre-enquête" (Paris 2014), ins öffentliche Bewusstsein zu dringen scheinen.
Schüleraktivierende Methoden mit textanalytischen Erkenntniszielen einsetzen
4. Fortgeschrieben werden kann auch die schulische Tradition, mit schüleraktivierenden Methoden ein vertieftes Verständnis für Handlungsmotive zu entfalten. Solche Verfahren müssen jedoch immer auf ein klares textanalytisches Ziel hin eingesetzt werden. Gerichtsverfahren können zum Beispiel ohne die im Roman enthaltenen satirischen Verzerrungen erneut und dann im Unterschied zum Roman als realistische Gerichtsverhandlung nachgespielt werden (Schröder 2010), um die satirischen Verzerrungen als unrealistische Darstellungen erkennbar zu machen.
Auf unergiebige Stilmittelanalysen verzichtend die Erzählperspektive erarbeiten
5. Angeknüpft werden kann ebenso an die Formanalyse als traditionelles Element schulischen Literaturunterrichts. Dabei ist allerdings auf unergiebige Stilmittelanalysen zu verzichten und stattdessen anzusetzen an einer Analyse der Erzählperspektive. Geklärt werden muss die Frage, wann und mit welcher Absicht das Erzählte erzählt wird. Das Ergebnis einer solchen Formanalyse ergibt, dass die erzählten Geschehnisse durch die Erzählperspektive verzerrt darstellt und damit unglaubwürdig sind: Der Erzähler erzählt, um sich und die Leserinnen und Leser von der Indifferenz aller von ihm getroffenen Entscheidungen und damit von seiner Unschuld zu überzeugen.
Zum kritischen genauen und nachfragenden Lesen erziehen
6. Genau lesen bedeutet, dem Text nichts anzudichten (das Wort "absurd" wird im Romantext selbst nur ein einziges Mal verwendet), sondern den Text ausgehend von den Fragen zu besprechen, die er bei den Lesenden nach einer unvoreingenommenen Lektüre aufwirft (vgl. Schröder 2013). Die Lernenden sind dabei anzuhalten, auch all die von den Leserinnen und Lesern genannten Fragen kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Text möglicherweise etwas andichten, was dieser nicht anspricht.
Mögliche Erkenntnisziele
7. Wenn die Frage nach der Erzählweise geklärt ist, kann der Roman als das interpretiert werden, was er den vorliegenden Überlegungen folgend zu sein scheint:
Erstens ein Roman in der Tradition der Kolonialliteratur der "algerienfranzösischen Schriftsteller" (Albes 1990), der zutiefst von den kolonialen Herrschaftsverhältnisse geprägt ist, in denen er entstanden ist.
"L’Étranger" stellt die koloniale Gewalt dar, bildet sie ab, problematisiert sie aber nicht. Die Haltung und Lebenseinstellung der colons, die im Roman koloniale Herrschaft und Ausbeutung ausüben, werden nicht kritisiert, sondern überhöhend und beschönigend dargestellt.
Eine ideologiekritischer moderner Roman
Zweitens ein Roman der literarischen Moderne, der wie diese Traditionen, traditionelle Werte und Gewissheiten in Frage stellt, indem er keinen glaubwürdigen Erzähler, keinen Helden, mit dem man sich identifizieren könnte, präsentiert. Der Roman zeigt damit exemplarisch, wie aus einer tiefen gesellschaftlichen Krise, aus dem sich abzeichnenden Untergang Kolonialalgeriens, moderne Kunst entsteht, die als "Bruch mit der Vergangenheit", als "Traditionsbruch" (Lamping 1991, 8), als Verfremdung durch "nicht realistische Verfahren" (ebd., 21), als Dissonanz in der Darstellung von Gegensätzen (ebd., 24), in "Verständnisschwierigkeiten" (32) mündet. Bei genauem Lesen von Camus' "L'Etranger" verlagert sich die Aufmerksamkeit vom Erzählten schließlich "auf das Erzählen selber", was typisch für moderne Prosa ist (Andreotti 2009, 250).
Der Versuch, ein untergehendes Lebensgefühl in einem Kunstwerk zu retten
"L'Etranger" könnte letztlich als Versuch verstehbar werden, in einem Kunstwerk zu retten, was nicht mehr zu retten ist: das Lebensgefühl und die von Camus behauptete Besonderheit einer sozialen Gruppe: der angeblich ohne Ideologien lebenden, einfachen aber ehrlichen Algerienfranzosen im Kontext ihres sich abzeichnenden Untergangs.
Zusatzinformationen
- Literaturverzeichnis
Die im Rahmen dieses Fachartikels verwendete Literatur finden Sie hier im Überblick.