2. Exkurs: Der sozial-politische Kontext des Romans

Herangehensweise im Unterricht

Wolf-Dietrich Albes hat vorgeschlagen, im Unterricht werkgenetisch vorzugehen und der Textanalyse eine Erarbeitung des historischen Kontextes voranzustellen (Albes 1990, 50). Er hält es für sinnvoll, zunächst die Verarbeitung des Algerienkrieges im Text genau herauszuarbeiten, dann diese Verarbeitung ideologisch zu verorten, um diese abschließend mit Camus' Haltung zum Algerienkrieg zu vergleichen.

Ein solches Herangehen im Unterricht ist möglich und gewinnbringend, verstellt aber den Weg für eine vom Schüler/innen-Ich ausgehende fragenentwickelnde Lektüre. Für die Planung einer Unterrichtseinheit durch den Lehrenden jedoch empfiehlt es sich aber, neben der Rezeptionsgeschichte auch die Produktionsgeschichte des Romans zu kennen und so soll zunächst einleitend eine solche Situierung des Romans in den politisch-sozialen Entstehungskontext geleistet werden.

Politisch-sozialer Entstehungskontext

Unabhängigkeitsbewegung Algeriens Ende der 1930er Jahre

Albert Camus' Roman entsteht am Ende der dreißiger Jahre in einem Klima wachsender Verunsicherung der Français d'Algérie auf der einen und der europäischen Intellektuellen auf der anderen Seite des Mittelmeers. Die französisch-europäische Bevölkerung Algeriens beobachtet in den dreißiger Jahren mit zunehmender Besorgnis, dass das nach der militärischen Niederschlagung des algerischen Widerstands gegen Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als ein halbes Jahrhundert lang unangefochtene Kolonialsystem von der kolonisierten Bevölkerung zunehmend radikal in Frage gestellt wird. Arabisch-algerische Intellektuelle beginnen sich zu organisieren und sie können sich dabei auf eine soziale Bewegung stützen, die in heftige Konflikte mit dem kolonialen Staatsapparat gerät. Im Jahr 1927 organisieren die Jeunes Algériens ihren ersten Kongress und stützen sich dabei bereits auf eine Vielzahl an neu gegründeten kulturellen Vereinen und Zeitungen. Mit der Étoile nord-africain gründet sich 1926 die erste politische Organisation, die die nationale Unabhängigkeit Algeriens fordert. Nach deren Auflösung durch die französische Regierung gründet Messali Hadj 1937 den Parti du peuple algérien, die ebenfalls eine Autonomie Algeriens verlangt, allerdings im Rahmen der französischen Republik. Wenige Jahre zuvor, 1931, hatte auch eine auf den religiösen Unterschied der kolonisierten Bevölkerung rekurrierende Association des oulémas musulmans algériens begonnen, die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich anzustreben. Hintergrund der Autonomiebewegung ist die auf den ersten Weltkrieg folgende soziale Krise. Sie hatte in den zwanziger Jahren zu massenhafter Verarmung der arabischen Bevölkerung und Hungersnöten geführt. Die algerischen Nationalisten kritisieren die ungleiche Landverteilung zugunsten der Kolonialfranzosen, die sie als Ursache für die zunehmende Verarmung ausmachen.

Die französische Regierung reagiert auf die Verbreitung eines algerischen Nationalismus mit Zeitungsverboten und der Verhaftung führender Intellektueller. Hadj wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, was die algerische Bevölkerung mit ersten noch vorsichtigen Protesten und Streiks beantwortet. Die Kantonalwahlen und Kommunalwahlen von 1937 und 1938 sprechen eine deutliche Sprache. Sie sind ein Triumph der die nationale Unabhängigkeit fordernden PPA, was nicht ohne Folgen bleibt: 1935 fordert der französische Parti Communiste die algerische Unabhängigkeit, 1936 formiert sich mit dem Parti communiste algérien ein nationaler Ableger des PC. Das Jahr 1937 bringt eine weitere Intensivierung des algerischen Widerstands gegen die Kolonialbesatzung, als sich weite Teile der bis dahin auf Gleichberechtigung innerhalb der französischen Republik zielende Assimilationsbewegung um Ferhat Abbas, enttäuscht von ausbleibenden Reformen, den Forderungen der Nationalisten anschließen.

"La nation algérienne n’est pas la France, ne peut pas être la France et ne veut pas être la France" (Saoudi 2016) schreibt der Anführer der islamisch-nationalistischen "l’Association des Oulama", Abdelhamid Ben Badis, im April 1936 unmissverständlich. Bei seiner Beerdigung im Jahr 1940, die von 20.000 Anhängern begleitet wird, zeigt sich mehr und mehr, dass der algerische Nationalismus zu einer Massenbewegung geworden ist.

Camus Reaktion auf die historischen Ereignisse

Obwohl Camus die nationale Unabhängigkeitsbewegung konsequent unerwähnt lässt (Kassoul/ Lakhdar 2006, 210), konnte die von ihr für die "Kolonialisten" ausgehende Gefahr weder von ihm noch von anderen europäischen Algeriern übersehen werden. Dieses Streben nach Unabhängigkeit und sozialen Reformen kulminiert am 1. und 8. Mai 1945 in den als eigentlicher Beginn der Guerre d'Algérie bekannten massiven Gewaltexzessen zwischen Français d'Algérie und den arabischen Algeriern. Die Brutalität, mit der beide Seiten agieren, ist nur dann verständlich, wenn man davon ausgeht, dass sich hier ein jahrzehntelang angestauter Konflikt entlädt. Am Ende stehen "102 Toten unter den Europäern tausende tote Algerier gegenüber" (Harbi 2005). Camus konnte diese deutlichen Zeichen nicht übersehen:

"les années précédentes, celles où Camus écrivait L’Etranger, ont été riches en événements ponctuant la longue et sanglante histoire de la résistance algérienne. Même si, selon tous ses biographes, Camus a grandi en Algérie en jeune Français, il a toujours été environné des signes de la lutte franco-algérienne" (Said 2000).

Mit der sich organisierenden Unabhängigkeitsbewegung zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Algerien der französischen Herrschaft zu entgleiten droht. Albert Camus' sozialkritische Reportagen über die Misère en Kabylie und andere Schriften sind eine Reaktion auf diese Verunsicherung. Ihr Ziel ist es, die französischsprachige Öffentlichkeit aufzurütteln und davon zu überzeugen, das Kolonialsystem durch politische und soziale Reformen vor dem Untergang zu retten. 

La crise française des années trente

Wie die Bedrohung des französischen Algeriens in den Roman eingeflossen ist, soll an späterer Stelle geklärt werden. Zuvor gilt es, ein weiteres für die Werkgenese wichtiges sozial-historisches Phänomen zu bestimmen, die sogenannte "crise française des années trente" (vgl. Bernstein 1988): Frankreich scheint nach 1918 trotz des gewonnen Krieges einem ausweglosen ökonomischen Niedergang zu verfallen, die politischen Eliten werden durch politische Korruptionsskandale diskreditiert. Zu beobachten ist eine zunehmende Radikalisierung von rechts und die traditionellen konservativen, liberalen und linken Kräfte geraten in eine ideologische Orientierungskrise. Die kurzzeitige Stabilisierung des politischen Systems durch die Volksfrontregierung von 1936 bis 1938 mündet in die "agonie de la IIIe République". Insbesondere die französische Linke ist Ende der dreißiger Jahre orientierungslos.

In Europa isoliert, konnte die Volksfrontregierung Léon Blumes nicht wagen, die republikanische spanische Regierung zu unterstützen. Die sozial-politischen Reformen der Volksfrontregierung fanden ein jähes Ende und markierten das Scheitern einer links-demokratischen Alternative zu despotischen rechtskonservativen und totalitären faschistischen oder sowjetkommunistischen Gesellschaftsmodellen. Deren Aufstieg scheint 1939 unaufhaltsam. In Spanien etabliert sich eine rechtsextremistische Diktatur, in Deutschland und Italien faschistische Regime, der Sowjetkommunismus wird unter anderem durch die Reiseberichte von André Gide in Frankreich als Alternative diskreditiert (Gide 1936).

Auswirkungen auf die Literatur: Zweifel an Wertsetzungen

Alle diese Phänomene verursachen ein weit verbreitetes "sentiment de désarroi" (Berstein 1988, 38), der sich auf das sozial-ökonomische, politische Leben und moralisch intellektuelle Leben auswirkt: Perspektivlos gewordene linke Intellektuelle und Künstler, zu denen auch Camus gezählt werden kann, der für einige Zeit Mitglied der algerischen PC gewesen ist, reagieren auf die zunehmende Ideologisierung Europas. Um den Verfall der humanistischen Werteordnung, die auf Wahrheit, Menschenrechten, Emanzipation des Individuums und Fortschritt basiert, zu verarbeiten, entwickeln sie unterschiedliche künstlerische Strategien. Verwiesen sei auf die "Auflösung des traditionellen Subjektbegriffs", die Ichauflösung in der modernen Literatur, auf die "Moderne Sprachkrise und Sprachkritik" und die Reflexion über den "Verfall der Werte" (vgl. Andreotti 2009, 50ff.).

Neben vielen anderen drücken Schriftsteller wie Alberto Moravia, Louis-Ferdinand Céline und Jean-Paul Sartre diese Krise in literarischen Werken aus, lassen desillusionierte und desorientierte Ich-Erzähler sprechen oder zeigen desillusionierte Helden. Bei Moravia leidet der Held unter einer allumfassenden Indifferenz:

"Michele non si muoveva, non gli era mai accaduto di vedere la ridicolaggine confondersi a tal punto con la sincerità, la falsità con la vérità; un imbarazzo odioso lo possedeva" (…) "  'Hai torto, pubblico accusatore' pensò con ironia, 'hai torto ... né purificatione, né espiazione, e neppure famiglio ... indifferenza, indifferenza; soltanto indifferenza'" (Alberto Moravia, Gli indifferenti, Roma 1929). Celine beginnt der Sprache zu misstrauen, "Avec les mots on ne se méfie jamais suffisamment " (Louis-Ferdinand Céline, Voyage au bout de la nuit, 1928-1932) und Sartres Roquentin verliert gänzlich den Glauben an die Bedeutung: "Je ne me rappelais plus que c'était une racine. Les mots s'étaient évanouis et, avec eux, la signification des choses, leurs modes d'emploi, les faibles repères que les hommes ont tracés à leur surface" (Sartre, La nausée, Paris 1938).

Und Hermann Broch konstatiert 1932, sechs Jahre, bevor Camus mit der Redaktion seines Romans beginnt: "Im Mittelpunkt dieses Schlussbandes steht der 'Zerfall der Werte', die historische und erkenntnistheoretische Darstellung jenes vierhundertjährigen Prozesses, der unter Leitung des Rationalen das christlich-platonische Weltbild des mittelalterlichen Europas auflöste, grandioser und fürchterlicher Prozess, an dessen Ende die völlige Wertzersplitterung, die Entfesselung der Vernunft mit dem gleichzeitigen Durchbruch aller Irrationalität steht, die Selbstzerfleischung der Welt in Blut und Not" (Hermann Broch, Der Wertzerfall und die Schlafwandler, 1932).

Lebensgefühl einer Generation von kritischen Intellektuellen: Zweifel gegenüber allen Wahrheiten und Revolte gegen Traditionen

Kurz nach Ende des 2.Weltkriegs beschreibt Albert Camus das Lebensgefühl dieser Zeit wie folgt: 

"Les hommes de mon âge en France et en Europe sont nés juste avant ou pendant la première grande guerre, sont arrivés à l'adolescence au moment de la crise économique mondiale et ont eu 20 ans l'année de la prise de pouvoir par Hitler. Pour compléter leur éducation, on leur a offert ensuite la guerre d'Espagne, Munich, la guerre de 1939, la défaite et quatre années d'Occupation et de luttes clandestines. Je suppose donc que c'est ce qu'on appelle une génération intéressante. (...) elle ne croyait à rien et elle vivait dans la révolte. La littérature de son temps, le surréalisme en particulier, était en révolte contre la clarté, le récit et la phrase elle-même. La peinture était abstraite, c'est-à-dire qu'elle était en révolte contre le sujet et la réalité. La musique refusait la mélodie. Quant à la philosophie, elle enseignait qu'il n'y avait pas de vérité, mais simplement des phénomènes, qu'il pouvait y avoir Mr. Smith, M. Durand, Herr Vogel, mais rien de commun entre ces trois phénomènes particuliers. Quant à l'attitude morale de cette génération, elle était encore plus catégorique: Le nationalisme lui paraissait une vérité dépassée, la religion un exil, vingt-cinq ans de politique internationale lui avait appris à douter de toutes les puretés, et à penser que personne n'avait jamais tort ou raison. Quant à la morale traditionnelle de notre société, elle nous paraissait ce qu'elle n'a pas cessé d'être, c'est-à-dire une monstrueuse hypocrisie. ... Mais ce qu'il y a de nouveau, c'est que ces mêmes hommes, étrangers à toutes valeurs, ont eu à régler leur position personnelle par rapport à la guerre d'abord, et par rapport ensuite au meurtre et à la terreur" (Camus 1946).

Das konservative Gegenkonzept zu Zweifel und Revolte: Verteidigung von Tradition, Religion und Familie

Während die Linksliberalen dieser Generation am Nationalismus und anderen diskreditierten Wertsetzungen zweifeln, orientiert sich die politische Rechte in Frankreich hingegen gerade an traditionellen Werten und am Nationalismus und versucht, mit einem Mutterkult der nationalen Geburtenschwäche entgegenzuwirken. Traditionelle Wertmaßstäbe spielen in der Zeit, in der der Roman entsteht und veröffentlicht wird, eine zentrale Rolle in der Bewältigung des krisenhaften sozialen und politischen Wandels.

So kann zum Beispiel durch eine Analyse zeitgenössischer Plakate oder Theaterstücke (Schröder 2006, 49ff.) gezeigt werden, welche Bedeutung der "Familie" als eine handlungsleitende Norm und Ideologie zukommt. Die französische Rechte erhoffte sich seit der Niederlage von 1870/71 eine höhere Geburtenrate, um Deutschland als Erbfeind militärisch die Stirn bieten zu können (Mayeur 1973, 55-57; Rebérioux 1975, 204-206). Die Glorifizierung der Familie und der Mutter zielt auf eine Steigerung der Geburtenrate. Seit dem Ende des 19.Jahrhunderts organisiert sich die patriotisch-republikanische Rechte, so zum Beispiel mit der Gründung der Alliance nationale pour l'accroissement de la population française im Jahr 1896, im Kampf gegen den bürgerlichen Individualismus und versucht, den Familiensinn und die Autorität der Familie zu stärken.

Für das Régime de Vichy wird die Verteidigung der Familie an oberster Stelle stehen. Der "abandon de famille" wird unter Strafe gestellt (Rossignol 2015, 108). Die nach dem Ende des ersten Weltkrieges geschaffene Journée nationale des mères de famille nombreuse wird unter Vichy ab dem 25. Mai 1941 zu einer "quasi-fête nationale" und von prunkvollen Plakaten beworben (Alary/ Vergez-Chaignon 2011). Abtreibung, Scheidung und Ehebruch mit und von Frauen, deren Männer in Kriegsgefangenschaft sind, werden unter strenge Strafe gestellt (ebd.). Aufschlussreich ist eine Analyse der Rede des Maréchal Pétain, der "Message du 11 juin 1940" und des "discours du 15 août 1940". Hier wird der Familie eine krisenlösende Funktion zugeschrieben:

"Dans la France refaite, l'argent ne sera que le salaire de l'effort. Votre travail sera défendu. Votre famille aura le respect et la protection de la nation. La France rajeunie veut que l'enfant remplisse vos cœurs de l'espoir qui vivifie et non plus de la crainte qui dessèche. Elle vous rendra, pour son éducation et son avenir, la confiance que vous aviez perdue. Les familles françaises restent les dépositaires d'un long passé d'honneur. Elles ont le devoir de maintenir à travers les générations les antiques vertus qui font les peuples forts" (Message du 11 juin 1940). "Les disciplines familiales seront sauvegardées (...).  La préface obligée à toute reconstruction est d’éliminer l’individualisme destructeur de la famille. Le droit des familles est antérieur et supérieur à celui de l’État comme à celui des individus… La famille, cellule initiale de la société, nous offre la meilleure garantie de relèvement." (...) "Une autre grave erreur de notre enseignement public, c’est qu’il est une école d’individualisme… La vérité, c’est que cet individu n’existe que par la famille, la société, la Patrie… " (discours du 15 août 1940).

Nicht nur für das Vichy Régime ist die Familie "la clef de la reconstruction du pays" (Blandin 2011). Seit dem Ende der französischen Revolution reguliert der Staat über den "code de la famille" die Familie: "le Code civil est un compromis entre les traditions anciennes et les réformes de la Révolution; il établit la dépendance de l’épouse par rapport au mari et son incapacité civile et supprime tous leurs droits aux enfants naturels" (Blandin 2011). Für die Rechte ist sie zugleich Ort der Erziehung, Ort der Autorität, Ort der Religion und des Eigentums und der Ort, an dem das Individuum lernt, sich aufzuopfern und den Individualismus zu überwinden: "Tocqueville va encore plus loin: face à la révolution qu’est la démocratie, la famille est devenue l’institution dans laquelle se joue l’essentiel du devenir politique du pays. Il regrette le remplacement de la famille aristocratique par la famille démocratique, car la supériorité de la première était de se maintenir dans le même lieu, ce qui sensibilisait l’homme à la nécessité de se sacrifier, pour ses ancêtres et ses descendants" (Blandin 2011). Für Lamartine, "l’individu passe, la famille reste" (ebd.).

Letztlich sind die Familiengesetze des Vichy-Regimes die Fortsetzung einer Familienpolitik, die auf einem breiten Konsens fußend bereits lange vor den 30er Jahren begonnen hatte und die Ende der dreißiger Jahre bereits vor Vichy Gesetzesform annehmen: "l’influence de l’Alliance dans les milieux parlementaires s’étend et de nombreuses mesures législatives en faveur des familles sont votées à la fin des années 1930. Dans ce contexte, la politique mise en place par le régime de Vichy n’apparaît pas comme une rupture, la famille étant l’objet d’un consensus politique" (Blandin 2011).

Mutterkult und religiöse Werteerziehung

Mutterkult und religiöse Werteerziehung gehen dabei Hand in Hand: "La célébration de la fête des mères est alors récupérée par l’Église catholique; c’est aussi à ce titre qu’elle figure dans le panthéon de la droite" (ebd.). Mit der religiös fundierten Ehrung der Mutter erhofft sich die rechts-konservative Politik eine soziale Befriedung der Gesellschaft:

"Les campagnes de Vichy dans ce domaine s’inscrivent dans une longue tradition de promotion de la natalité, leur nouveauté est d’associer l’effort nataliste au modèle corporatiste prôné par Pétain: 'l'objectif final de la propagande nataliste vichyste n’était donc pas seulement le repeuplement, mais aussi l’éradication de la lutte des classes, par la substitution d’une mystique familiale et corporatiste'. Un tract de 1943 proclame ainsi: 'Le bonheur des familles, c'est la paix sociale'".

Der Familiensinn ist nicht nur eine spontane soziale und individuell erlebte Empfindung, sondern eben auch ein gesellschaftliches Konstrukt, das insbesondere von der politischen Rechten im Frankreich bis in die dreißiger Jahre zur Verarbeitung sozialer Krisen eingesetzt wurde. Die Familie soll das leisten, was die Gesellschaft nicht mehr leisten kann.

Im weiteren Verlauf wird auch zu untersuchen sein, inwieweit Spuren der "crise des années trente" und der in ihr wirkenden Ideologien, Traditionen, Desillusionen und Protestformen im Roman zu finden sind. Die Fragen, die sich dem Leser bei einer genauen Lektüre von Camus' Roman stellen und die im zweiten Teil des Artikels zunächst systematisch Kapitel für Kapitel formuliert werden sollen, können letztlich nur im Kontext dieser Krise betrachtet fundiert beantwortet werden.

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Dr. Achim Schröder

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