Albert Camus' "L'Etranger": Einen Schulklassiker genau lesen, Teil VI

Fachartikel

Der sechste und letzte Teil der Studie zu Camus' "L'Etranger" untersucht die Erzählperspektive. Damit kann abschließend die Frage beantwortet werden, aus welcher Perspektive erzählt wird und welche Konsequenzen eine Analyse der Erzählperspektive für die Gesamtdeutung des Romans hat. Abschließend werden aus der Gesamtdeutung literaturdidaktische Konsequenzen für den Französischunterricht abgeleitet.

Albert Camus' Roman "L'Etranger", zwischen 1939 und 1940 verfasst und 1942 veröffentlicht, kann wohl als "Schulklassiker Nummer eins" (Steinbrügge 2008, 77) gelten. Die Arbeit mit dem Roman im Unterricht steht jedoch trotz oder vielleicht gerade wegen der großen Zahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die sich an einer Deutung versucht haben, und wegen einer langen Tradition didaktisierter Unterrichtsvorschläge noch immer vor großen Herausforderungen. Eine besondere Schwierigkeit bei der Arbeit mit dem Text ergibt sich aus der Forschungslage. Rezeptionsgeschichtlich überlagern sich mehrere noch immer wirksame Phasen letztlich widersprüchlicher Romandeutungen (vgl. Ansel 2012, 123ff.), was eine dem Text angemessene, zum Verstehen des Textes führende didaktische Planung erschwert.

Erzählperspektive und Desillusion

Die Indifferenz angesichts einer von Meursault behaupteten Absurdität der Welt wird in der Sekundärliteratur zumeist als Grundkonstante der Lebenshaltung des Ich-Erzählers bestimmt (vgl. die Literaturhinweise zu dieser Tradition der Textdeutung bei Ansel 2012, 223ff.).

In der Analyse seiner Revolte gegen den Priester konnte jedoch gezeigt werden, dass die Indifferenz eine erst kurz vor seinem Tode gemachte Empfindung ist. Meursault betrachtet von nun an alles, was sein Leben bestimmt hatte, indifferent. In dem Moment dieser Entscheidung beginnt sich Meursault an seine Mutter zu erinnern und dies wäre ein Hinweis darauf, dass seine Erzählung, seine Darstellung der Geschehnisse bis zur Revolte, bis zur Entdeckung der Indifferenz und bis zur Entscheidung, alle Geschehnisse seines Lebens als unbedeutend und indifferent anzusehen, genau in diesem Moment beginnt.

Eine solche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Erzählung wird durch eine Analyse der paradoxen Zeitangaben im ersten Teil gestützt:

"L’Etranger" ist keine glaubwürdige Ich-Erzählung in Tagebuchform

Nur am Anfang konnte der Text als eine Ich-Erzählung in Form einer glaubwürdigen Tagebucheintragung gelesen werden. Kapitel I und Kapitel III beginnen mit den Worten "Aujourd'hui, maman est morte" und "Aujourd'hui, j'ai beaucoup travaillé", Kapitel IV enthält ebenfalls konkrete Zeitangaben, "J'ai bien travaillé toute la semaine" (42), "Ce matin [...]" (43). Diese Zeitangaben sind jedoch unzuverlässig.

Dietmar Rieger (2010) hat auf den Kunstcharakter der Erzählweise hingewiesen und stellt fest: "Der Erzähler arbeitet in den ersten fünf Kapiteln mit dem Trick, sich dem Leser mit allen, auch stilistischen Mitteln (mangelnde Artifizialität, Mündlichkeit, Parataxe, Passé composé usw.) als glaubwürdiger und zuverlässiger Erzähler anzudienen, der sich selbst dem Leser unverfälscht und ohne ästhetische Glättung und ornamentale Frisierung darbietet und der ganz dezidiert nicht willens ist, aus den aneinandergereihten Geschehenselementen, dem "banal erfaßten Lauf der Dinge" und der "sprunghaften Folgen von jeweils augenblickserstarrten Zuständlichkeiten", eine "Geschichte" zu konstruieren.

Eine weitgehend indifferent scheinende Organisation des Textes

Vorherrschend bleibt bis zum sechsten Kapitel die weitgehend indifferent scheinende Organisation des Textes, in der sich die Indifferenz ihres Erzählers widerspiegelt – eine Indifferenz, die ein auf eine bestimmte Wirkung zielendes, persuasives und interessegeleitetes Pro-domo-Erzählen auszuschließen (341) scheint und damit von vorneherein das an sich durchaus naheliegende Bedürfnis des Lesers, den Text textintern und mit seinen historisch-kulturellen Konnotationen verifizierend abzugleichen, weitgehend unterbindet. Obgleich der Leser just und vor allem aus den genannten Gründen keine Veranlassung hat, an der Zuverlässigkeit des Erzählers zu zweifeln – Albert Camus' vielzitiertes Diktum "il refuse de mentir", unterstreicht sie überdies – , gelingt es ihm nur sehr maßvoll, die moralischen und sozialen Vorbehalte gegenüber Meursault zu reduzieren, die sich vom ersten Kapitel an aufbauen und zunehmend verdichten" (342).

Ein wohlinszenierter Eindruck der Zuverlässigkeit des Erzählers

Rieger konstatiert einen "wohlinszenierten Eindruck der Zuverlässigkeit des Erzählers und des in der Rezeptionsgeschichte des Etranger in der Regel sehr ernst genommenen Erzählten", eine "Sympathielenkung durch den Erzähler" (344) und eine "Prozeßkarikatur" (344) weitab von realistischem, glaubwürdigem Erzählen.

Dietmar Rieger geht bei Meursault von einer "(mehr oder weniger) bewusste[n] Verdrängung" (348) der eigenen Schuld aus, die es allerdings gegen die Erzählstrategie zu erkennen gilt:

"Bereits die Frage, weshalb der Protagonist, nach der ersten Konfrontation mit den beiden Arabern an der Quelle, Raymond die nicht mehr benötigte Pistole nicht einfach zurückgibt, ist nicht befriedigend zu beantworten. Legt nicht das betonte Personalpronomen in der Aussage des Erzählers, Raymond habe sich nach dem Rückzug der zwei Araber besser gefühlt ('Lui paraissait mieux', 91), quasi sich als Sieger gefühlt, nahe, dass gleiches nicht für Meursault gilt?" (ebd.)

"Die Quelle kann nicht das Ziel seines Spazierganges gewesen sein, denn erst als er den Felsen sieht, erinnert er sich an die Quelle: 'Jetzt erst lässt der Erzähler seinen hitze- und sonnengeplagten Protagonisten […] sich an die Quelle […] erinnern'" (ebd.).

"Musste er nicht mit der Anwesenheit der beiden Araber rechnen?" (ebd.)

"Hat Meursault, mit dem Revolver in der Tasche, die ganz Geschichte wirklich abgehakt  ("Pour moi, c’était une histoire finie"), und ist sie ihm auf dem Weg zur Quelle tatsächlich nicht in den Sinn gekommen ("j’étais venu là sans y penser")? Zweifel daran sind nicht nur erlaubt, sondern drängen sich geradezu auf" (350).

Der Erzähler modelliert einen meurtre avec préméditation

"Also doch ein 'meurtre avec préméditation', den der Erzähler in seiner 'Aussage' zu einem "homocide involontaire" modelliert, zusätzlich versehen mit der "nécessité de la légitime défense", die allenfalls unter einer disproportion entre les moyens de défense employés [Revolver] et la gravité de l’atteinte [Drohgebärde mit dem Messer] leidet?"

"Damit aber auch weit entfernt von einem 'acte gratuit', mit dem ein Teil der Étranger-Interpreten nicht nur in Frankreich schon immer liebäugelte, um mit diesem Konzept der Tat Meursaults eine philosophische Nobilität zu verleihen, ihr den Schleier der Absurdität umzuhängen und dadurch die vom Erzähler geschickt eingefädelte Identifikation des sich als nonkonformistischen und deshalb leicht heroisierbaren Romanprotagonisten weiter zu befördern und zu legitimieren. Denn unabhängig davon, ob es einen 'acte gratuit' in der gängigen Definition einer meist zerstörerischen spontanen Handlung ohne feste Zielsetzung, auslösende Faktoren und nachvollziehbare Motivation sowie Eigenverantwortlichkeit überhaupt geben kann, wäre es auch im Fall völligen Vertrauens in die Zuverlässigkeit des Erzählers Meursault unmöglich, die Tat des Protagonisten des Etranger als Akt des 'reinen Willens' in völliger Interesselosigkeit und Indifferenz zu qualifizieren. Gegen den 'acte gratuit' spricht im Übrigen allein schon die vielschichtige Antinomie von Täter und Opfer, deren Verhältnis sich von Anfang an" (349) "zuerst als latent und dann als offen konfliktuell gestaltet. […] Entscheidet sich der Leser dafür – und er allein besitzt in dieser Hinsicht die eigentliche Kompetenz – , daß dieser Erzähler unzuverlässig und unglaubwürdig ist, dann ist – unabhängig davon, wie hoch die Intentionalität und die Prämeditation der Tat veranschlagt werden – die verbreitete These von einer im Grund und im weitesten Sinne rassistischen, kolonialistischen Tat indessen die naheliegendste" (350).

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