Albert Camus' "L'Etranger": Einen Schulklassiker genau lesen, Teil I und II
Dieser Aufsatz legt eine auf neuen Forschungsarbeiten beruhende Gesamtdeutung eines Schulklassikers des Französischunterrichts vor: Camus‘ "L’Etranger". In den ersten beiden Teilen wird zunächst erläutert, warum eine Gesamtdeutung des Romans vor der Planung einer Unterrichtseinheit notwendig ist, um den Roman dann in den Kontext seiner Entstehung einzuordnen.
Albert Camus' Roman "L'Etranger", zwischen 1939 und 1940 verfasst und 1942 veröffentlicht, kann wohl als "Schulklassiker Nummer eins" (Steinbrügge 2008, 77) gelten. Die Arbeit mit dem Roman im Unterricht steht jedoch trotz oder vielleicht gerade wegen der großen Zahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die sich an einer Deutung versucht haben, und wegen einer langen Tradition didaktisierter Unterrichtsvorschläge noch immer vor großen Herausforderungen. Eine besondere Schwierigkeit bei der Arbeit mit dem Text ergibt sich aus der Forschungslage. Rezeptionsgeschichtlich überlagern sich mehrere noch immer wirksame Phasen letztlich widersprüchlicher Romandeutungen (vgl. Ansel 2012, 123ff.), was eine dem Text angemessene, zum Verstehen des Textes führende didaktische Planung erschwert.
1. Einleitung
Jean-Paul Sartres existentialistisch-philosophische Deutung des Romans
Bis zu Sartres Kommentar im Jahr 1943 liest das Publikum den Roman noch unbeeinflusst von Deutungstraditionen. Der Roman wurde als unmoralisch verurteilt (Rousseau 1942) oder als präzise Beschreibung eines sich selbst entfremdeten Menschen (Blanchot 1943) wertgeschätzt. Seit Jean-Paul Sartres (1943) existentialistisch-philosophischer Deutung des Romans als Darstellung des Absurden, das aus dem Pluralismus der Wahrheiten, dem Zufall, dem Tod und der Sinnlosigkeit des Realen entstünde, "L'Etranger sera donc le roman du décalage, du divorce, du dépaysement", reduzierte sich die Auseinandersetzung mit dem Roman zumeist darauf, ihn im Vergleich zu Camus' Thesen zur Absurdität des modernen Lebens zu lesen. Der literarische Text selbst wird nicht mehr aufmerksam gelesen, sondern mit einem philosophischen Text, Camus‘ "Le mythe de Sysiphe" (1942), verglichen, weil er als Illustration philosophischer Thesen, als "roman de ..." verstanden werden soll. Überlesen wird von nun an häufig, was im Text des Romans selbst steht und welche Fragen dies aufwirft. Vergessen wird, dass literarische Texte nach anderen Regeln funktionieren als philosophische Texte. In den Roman hineingelesen wird, was die Kommentatoren an symbolischer Bedeutung in ihm erkennen zu können glauben. L'Etranger wird von nun an zum "roman de quelque chose", aber selten zum "roman de ce qu'il raconte".
Glorifizierung des Romans als Teil von Camus' Gesamtwerk
Mit der Verleihung des Nobelpreises an den Autor im Jahr 1957 beginnt dann eine weitere bis heute anhaltende Textdeutungstradition, die den Roman als Teil von Camus' Gesamtwerk glorifiziert. Der Autor wird zum Klassiker. Als Nobelpreisträger, Kritiker des totalitären Kommunismus, Humanist und Moralist gefeiert, gerät er zur nationalen Identifikationsfigur, zum Objekt eines "culte du grand homme" (Ansel 2012, 171): "Albert Camus, prix Nobel de littérature, est intouchable … les études camusiennes … versent … dans l'idolâtrie" (ebd.). Camus' Interpretation des eigenen Romans im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe von 1958 dominiert bis heute die Deutung des Romans, der von nun an als Geschichte eines Helden gelesen wird, der unschuldig stirbt, weil er vor Gericht die Wahrheit sagt und sich nicht mit Lügen verteidigt, eines Helden, der wegen der absurden Tatsache sterben muss, bei der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint zu haben. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem Sowjetmarxismus in "L’homme révolté" (1951) hatte ihm zuvor schon einen besonderen Platz eingeräumt: Er wird zu einem Helden im Kampf gegen die totalitären politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts.
Politischer Kampf um den Roman
Mit dem Algerienkrieg und der algerischen Unabhängigkeit beginnt der politische Kampf um den Roman. Während die einen auf einer unpolitischen Deutung beharren (Castex 1965), versuchen andere eine ideologiekritische Deutung des Romans (Nora 1961, Ibrahimi 1967, O'Brian 1970, Albes 1990, Said 2000 usw.).
Behandlung des Romans im Literaturunterricht
Die vielen Versuche, die dem Roman eingeschriebenen Ideologien zu entziffern, haben jahrzehntelang jedoch ebenso selten Eingang in Klassenräume gefunden wie die Deutungen, die den Roman als Text der literarischen Moderne (Zima 1986) oder unter Berücksichtigung einer komplexen Erzählstrategie (Soelberg 1985) betrachten. Die Behandlung des Romans im Literaturunterricht, so konnten Steinbrügge und Ansel nachweisen, nimmt von der bestehenden Deutungskontroverse und der modernen Camusforschung herzlich wenig Notiz.
Symbolische Deutungen, die den Handlungsverlauf des Romans aus der Sicht des Ich-Erzählers als wahre Geschichte oberflächlich betrachten und Camus' Interpretation letztlich nur paraphrasieren (vgl. hierzu die Kritik von Ansel 2012, 123-151), dominieren die Lektürearbeit und werden mit kurzen Hinweisen auf Camus' laienphilosophische Frühschrift "Le mythe de Sysiphe", auf seine Streitschrift "L'homme révolté" und auf Grundfragen von Sartres Existentialismus ergänzt. Sie führen nicht selten zu Ergebnissen, die Camus' "philosophische Thesen" über die Absurdität des Lebens als "Grundgefühl des modernen Menschen" (Keiser 2001, 1) erscheinen lassen.
Soziale Bedeutungen des Erzählten
Eine "Erziehung als 'Lehre des Verstehens'" (Gruschka 2011, 22) würde hingegen eine präzise Textanalyse, gestützt auf genaues Lesen notwendig machen. Eine solche Textanalyse müsste, ausgehend von allen Fragen, die der Text bei den Lesenden aufwirft (vgl. Kreft 1977, 381; Schutte 1990, 32f.; Kammler 2010, 219; Reemtsma 2016, 48; Schröder 2013), vor allem auch die Darstellungsweise und Charakterisierung der Araber im Roman und ihre Beziehungen zu ihren "Kolonialherren" analysieren und nicht "verdrängen" (vgl. Steinbrügge 2008, 79). Denn aus diesen sozialen Beziehungen entwickelt sich die Romanhandlung und diese ist in ihrer Darstellung von einer radikal subjektiven Erzählperspektive geprägt. Die Erzählweise schafft eine Wirklichkeitsillusion, sie stellt den Leserinnen und Lesern eine "realistische Falle" (Steinbrügge 2008, 81), indem sie einlädt, den Roman als realistische Schilderung von Geschehnissen zu lesen, obwohl es sich um eine subjektiv geprägte Ich-Erzählung handelt. Durch genaues Lesen müssten also soziale Bedeutungen des Erzählten und Verzerrungen durch die Erzählweise analysiert werden. In einer Untersuchung von Camus' Novelle "L'hôte" (Schröder 2016) kann gezeigt werden, welche Erkenntnismöglichkeiten eine Interpretation eröffnet, die sich bei der Analyse sozialer Bedeutungen des Erzählten zunächst auf eine textimmanente Analyse beschränkt. Aus dieser kann sie zunächst eine Charakterisierung von literarischen Figuren entwickeln. Die Charaktere dieser Figuren können dann als Sozialcharaktere bestimmt werden, die sich möglicherweise als typisch für eine zeitgenössische soziale Gruppe erweisen und die eine bestimmte Funktion in einer präzise bestimmbaren historischen Situation erfüllen.
2. Exkurs: Der sozial-politische Kontext des Romans
Nach einer Rekonstruktion des Entstehungskontextes des Romans beginnt die eigentliche Textinterpretation anknüpfend an die Fragen, die der Text als Text beim Lesen aufwirft. Es soll vermieden werden, den Text vorschnell als Dokumentation oder Illustration von etwas anderem, von Sozialgeschichte oder philosophischen Thesen zu betrachten. Zu welchen Erkenntnissen, so die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung, kann eine "textimmanente forschend-fragenentwickelnde Analyse" und eine "Charakterisierung" gelangen, wenn sie soziologisch fundiert erweitert wird, indem sie in Bezug zum sozial-politischen Kontext, in dem der Text produziert wurde, gesetzt wird?
Dabei soll darauf geachtet werden, nicht vorschnell mit einem Griff in "die didaktische Trickkiste" (ebd., 165) eine "Beschleunigung und Abkürzung" (Gruschka 2011, 155) zu erreichen, wo Entschleunigung und Exkurse für ein Verstehen des Romans notwendig werden.
Da eine textkritische Ausgabe des Romans noch immer nicht vorliegt, ein Desiderat der Camus-Forschung ist und bleibt (Ansel 2012) und dieser Mangel leider noch immer das Verständnis der für den Roman entscheidende Mordszene am Ende des ersten Teils des Romans verstellt, soll bei der genauen wörtlichen Lektüre des Romans sowohl auf die vom Autor autorisierte Ausgabe als auch auf die wenigen veröffentlichten Auszüge aus dem Manuskript Bezug genommen werden.
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Kapitel 2 dieses Aufsatzes erläutert, wie der Roman in den Kontext seiner Entstehung eingeordnet werden kann.
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Zusatzinformationen
- Literaturverzeichnis
Die im Rahmen dieses Fachartikels verwendete Literatur finden Sie hier im Überblick.