Wie viele Ichs habe ich?
Schülerinnen und Schüler überraschen ihre Lehrkräfte immer wieder. So auch hier passiert im Förderunterricht des Faches Deutsch unseres Grundschullehrers Herr Klafki. So kann eine Stunde zum kreativen Schreiben in einer Selbstreflexion von Lernenden im Grundschulalter enden.
Deutsch-Förderunterricht. Einmal wöchentlich begrüße ich die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler des Deutschunterrichts klassenübergreifend zum Förderunterricht Deutsch. Dort passieren viele schöne Dinge. Jedes Mal. Dinge, die nicht unbedingt etwas mit dem Lehrplan zu tun haben. Und das finde nicht nur ich wunderbar, sondern umso mehr auch die Kinder.
Thema der momentanen Einheit ist das kreative Schreiben. Ohne Zeitdruck. Mit dem Wissen, dass man nächste Woche einfach weiterschreiben kann. Ganz entspannt. Dass das anschließend mit einer grammatikalischen Einheit gekoppelt wird, verraten wir an der Stelle einfach mal noch keinem. Ist besser so. Kommt noch. Das hat aber Zeit.
Ich starte die Einheit mit einem Satz, den ich wortlos an die Tafel bringe: Wie viele ICHs kenne ich? Manni lacht und stellt fest: "Ich kenne nur ein ICH und das bin, naja, ICH!" Carla entgegnet Manni trocken: "Denk mal nach, Manni. Bist du bei Mama genauso wie in der Schule? Beim Arzt genauso wie bei deiner Katze?" Mir klappt die Kinnlade herunter, weil ich Carlas Gedanken unterstützend ungefähr genauso formuliert hätte. Ganz im Sinne des Soziologen Erving Goffmans, der mit seinem Buch "Wir spielen alle nur Theater" die Grundidee der Lerneinheit bildet. Mega. "Carla hat Recht, Manni. Du natürlich auch! Du bist du, Manni. Du bist einzigartig. Ihr anderen auch. Einzigartig ICH." Alle lachen. Leise frage ich: "Aber woraus besteht dieses ICH? Verändert es sich manchmal? Ist es immer gleich?" Man kann eine Stecknadel auf den Boden fallen hören. Alle grübeln. Alle denken nach. "Ich bitte euch heute darum, euch Gedanken darüber zu machen. Schreibt dazu Notizen auf. Mehr nicht."
Es dauert keine fünf Sekunden und alle schreiben. Nach einigen Minuten meldet sich Greta* und fragt: "Du, Herr Klafki, kann ich auch einen Brief an mein eigenes Ich schreiben und darin festhalten, wie unterschiedlich ich mich in verschiedenen Situationen fühle und verhalte?" Ich bin baff. "Das ist einfach eine sehr, sehr, sehr, sehr, sehr tolle Idee! Greta, das kannst du gerne so machen!" Greta grinst, sieht zu Recht stolz aus und schreibt postwendend konzentriert weiter. Wie alle anderen auch. So muss das sein. Die Zeit vergeht viel zu schnell und so schließe ich die Stunde mit den Worten: "Wir machen an der Stelle nächste Woche weiter! Versprochen!"
Die Namen wurden von der Redaktion geändert.