Rezeptionsgeschichte als Geschichte einer Kontroverse: die Mordszene II

Michel Mougenots Interpretation

Neben den Dingen, dem Schicksal und der Sonne gibt es eine dritte Erklärung:

"Le meurtre de l'Arabe apparaît comme la conséquence de l'état physique de Meursault provoqué par un abus de boisson et un séjour prolongé au soleil, tête nue. Victime d'une insolation, il agit de manière mécanique sans savoir vraiment ce qu'il fait. Arrêté, il est conduit en prison. Le meurtre de l'Arabe est un alibi réaliste [...]: Meursault tente de tuer le soleil. [...] Pourquoi Meursault tire-t-il sur le soleil?" (Mougenot 1988, 27f., z.n. Ansel 2012, 148).

Meursault wird von seiner Verantwortung für den Mord freigesprochen, indem unterstellt wird, er sei betrunken gewesen. Im Text jedoch finden sich hierfür keine Anzeichen. Letztlich habe Meursault nicht auf den Araber, sondern auf die Sonne geschossen, die sich in seinem Messer gespiegelt habe. Anstatt den Text genau zu lesen, verliest sich der Kritiker, Literaturwissenschaftler und -didaktiker oder fühlt und deutet alles so symbolisch, dass sich der Protagonist und Erzähler als so unschuldig erweist, wie er sich in seiner Erzählung darstellt:

Seine Schüsse auf den leblosen Körper sind dann "wie ein letzter verzweifelter Versuch, den Tod in seine Schranken zu weisen und ihn aus seinem Leben zu verbannen. (Keiser 2001, 59) [...] Der Leser fühlt, dass Meursault im moralischen Sinn im Grunde genommen am Tod des Arabers unschuldig ist" (ebd. 61).

Fühlen tritt an die Stelle von Verstehen, symbolische Deutungen an die Stelle einer Analyse von Textstellen, die Fragen aufwerfen. Oder der Text wird so gelesen, als erkläre er sich selbst, als könne der Erzähler an die Stelle des Lesers treten, der sich dann ja nicht mehr die Mühe des genauen Lesens machen muss.

Die Paraphrasierung ersetzt die Textanalyse

Was für den Erzähler zufällig zu sein scheint, wird es dann für den Didaktiker, wenn er an den Text keine Fragen stellt, sondern den Text nur paraphrasiert:

"nach dem Rückzug der Araber hinter den Felsen und der Rückkehr ins Strandhaus schnellt der Spannungsbogen wieder abrupt nach oben, als sich Meursault einem spontanen Reflex folgend, dessen absurde Zufälligkeit er erklärt [sic !], wieder an den Strand begibt : 'Rester ou partir, cela revenait au même'. [...] Nun wirkt sich eine Verkettung von Umständen aus: der Meursault blendende, von der Messerklinge zurückgeworfene Lichtreflex, der in seinen Augen brennende Schweiß, die unerträgliche Sonnenglut – all die gesammelte körperliche Pein lassen Meursaults Finger am Abzug verkrampfen und den todbringenden Schuss abfeuern. In einer absurden Anwandlung schießt Meursault noch viermal auf den leblosen Körper" (Kemmner 2004, 55).

Den sozial-politischen Grund des Mordes erarbeiten oder überlesen

Die Interpretationen von Volker Eckhard, Christiane Chaulet Achour, Wolf-Dietrich Albes und Yves Ansel

Die weiter oben aufgeworfene Frage, ob die kontroverse Deutungsvielfalt durch die im Text angelegte "Vieldeutigkeit des Textes", den Autor, durch dunkle Stellen oder nicht doch durch andere Gründe entstanden ist, kann in einem Zwischenfazit wie folgt beantwortet werden:

Die hier zitierten Leser nutzen die Möglichkeiten, die der Text bietet, den sozial-politischen Grund des Mordes zu überlesen, den andere Leser erarbeiten.

Volker Eckhards These: Darstellung en miniature des Herrschaftsverhältnisses zwischen Kolonialherren und Kolonisierten

Volker Eckhard deutet die Mordszene als Darstellung des Kolonialverhältnisses:

"An Meursaults Verhalten gegenüber den Arabern im sechsten Kapitel fällt zunächst auf, dass er sich von einer Randfigur [...] zur aktiven und bestimmenden Gestalt [...] entwickelt [...] (280). Die Konfrontationen am Strand bieten [...] eine Darstellung en miniature des Herrschaftsverhältnisses zwischen Kolonialherren und Kolonisierten: Meursaults Gefühl der Bedrohung speist sich aus der Angst der französischen Kolonialherren vor einer Revolte der einheimischen Bevölkerung (Volker 1987, 282). "Nur vor dem Hintergrund dieser kolonialen Perspektive wird die romaneske Konstruktion glaubhaft, dass man vom Opfer abstrahieren kann, während sich alles Mitgefühl und alle Tragik auf den Täter verlagert (ebd.). [...] Der schon (fast symptomatische) Eifer [des Erzählers, A.S.], die Zufälligkeit der letzten Begegnung zu unterstreichen, geht sogar so weit, dass die Handlung des Zurückkehrens zur Quelle allein dem Araber zugeschrieben wird: 'le type de Raymond était revenu'. [...] Ein Zusammenhang mit den vorhergehenden Begegnungen wird [...] bestritten und schließlich durch die Intensität der Sonnen-Metapher ganz in den Hintergrund gedrängt. Meursaults Verhalten in der Mordszene scheint nicht mehr durch sein Verhältnis zu den Arabern, sondern nur noch durch das zur Sonne bestimmt; zu beobachten ist also eine 'Naturalisierung' des Konflikts, eine Verschiebung des Mordmotivs aus dem Gesellschaftlichen ins Kosmische" (ebd., 283).

Christiane Chaulet Achour und Wolf-Dietrich Albes: der Mord als das Ergebnis einer "kolonialen Auseinandersetzung"

So auch Christiane Chaulet Achour und Wolf-Dietrich Albes, die den Mord als das Ergebnis einer "kolonialen Auseinandersetzung", als einen "affrontement colonial" (Achour 1984, 73) lesen:

"Hinweise lassen darauf schließen, dass dieser am Sandstrand vorgelagerte felsige Bereich, in dem der cabanon steht und damit die gesamte Küste als ein von den algerienfranzösischen colonisateurs beanspruchtes bzw. besetztes Territorium anzusehen ist, in das sie sich aus der Hitze der Großstadt in die dort errichteten Hütten und auch Villen flüchten. […] In dieses Territorium der müßigen colonisateurs dringen nun die beiden Araber bzw. colonisés ein. […] Sie provozieren, bedrohen und greifen zunächst die überraschten, am Strand spazierengehenden Algerienfranzosen mit dem Messer, der klassischen Waffe des colonisé, an, die wenig später in der Schusswaffe (Revolver) als typischer Waffe des colonisateur ihr entsprechendes Gegenstück findet"(Albes 1990, 18).

"[...] l'Arabe [...] est châtié parce qu'il est resté là, présence intolérable au lieu de se fondre dans le paysage. Par la sémantique des lieux, le texte dit aussi l'histoire d'une société" (Achour 1984, 75).

Steinbrügges Kritik an der enthistorisierten schulischen Rezeption des Romans

Auch Lieselotte Steinbrügge lehnt es ab, "davon zu abstrahieren, dass der Mord, den Meursault begeht, der Mord eines Angehörigen einer Kolonialmacht an einem Kolonisierten ist. Und ebenso wenig können heutige Leser/innen die Anonymisierung des Opfers als l’arabe verstehen, ohne damit Rassismus zu assoziieren. Und sie nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass "verdrängt" wird, was thematisiert werden müsste: "Trotz der Bekenntnisse zu 'Entstaubung' und 'Aktualisierung' folgen die Unterrichtsvorschläge hier der traditionellen Lesart, die den Roman enthistorisiert und die erzählte Geschichte lediglich als Medium einer universellen, von Zeit und Ort unabhängigen Botschaft begreift. Ausgerechnet in einem Unterricht, dessen leitendes Lernziel die interkulturelle Kompetenz ist, wird eine neue Lesart des Romans als eines Konflikts zwischen den colons und colonisés in keinem der vorliegenden Entwürfe berücksichtigt. Es ist bezeichnend, dass unter den Arbeitsaufträgen, die zu einem Perspektivwechsel einladen, z.B. durch das Verfassen innerer Monologe, sich nie die Perspektive des Opfers findet. [...] Nur am Rande wird der historische Kontext thematisiert, in dem Camus' Sinnverweigerung steht. [...] An keiner Stelle wird den Schüler/innen das Wissen vermittelt, gegen welche Weltbilder sich der Roman richtet. [...] Mit dieser Figur demonstriert Camus, dass es ein gelungenes Leben gibt, ohne dass dieses Leben Ziele und Ideale benötigt, für die zu leben (oder zu sterben) es lohnt. Das ist gemeint mit 'ne pas jouer le jeu'. 'Camus' Nihilismus und sein bedingungsloser Atheismus erklären sich vor allen Dingen aus dem Kontext der Kriegs- und Nachkriegszeit, die unter dem Schock der verheerenden Wirkung von Ideologien'".

Yves Ansels Interpretation: c’est la "haine" (le dernier mot du roman) qui arme la main de Meursault

Und Ansel verweist mehrfach auf das sozialhistorische Material, die Kolonialsituation, welches in den Roman eingearbeitet worden ist:

"Loin que la cause de l’assassinat soit le soleil (c’est l’explication avancée par le meurtrier, et rituellement reprise par la critique officielle), c’est la 'haine' (le dernier mot du roman) qui arme la main de Meursault, lequel, quelque temps avant de tuer l’Arabe, avait déclaré à son ami: 'Prends-le d’homme à homme et donne-moi ton revolver. Si l’autre intervient ou s’il tire son couteau, je le descendrai'. Voilà des mots simples, des phrases univoques, et sans circonstances atténuantes. Quand, plus tard, l’Arabe tirera son couteau, Meursault fera ce qu’il a dit qu’il ferait, il le 'descendra'. Nous avons donc bien affaire à un meurtre annoncé, programmé, pas à un meurtre gratuit, involontaire, 'absurde'." 

Ansel : les critiques ont choisi de se voiler la face

"Et bien, aussi limpide et explicite que soit la lettre du roman, d’un commun accord, commentateurs et critiques ont choisi de se voiler la face, et c’est ainsi que depuis 1942, L’Etranger est un roman censé illustrer la philosophie de l’absurde."

Und unter Verweis auf das noch immer nicht veröffentlichte Manuskript fügt er hinzu:

"Ce que montre en effet le passage du manuscrit 1 à la version définitive, c'est la volonté délibérée de blanchir le meurtre, de disculper le héros. Camus superpose les circonstances atténuantes: d'une part il accentue très nettement le rôle du soleil, de la chaleur, du temps 'immobile' ('Il y avait déjà deux heures ... deux heures: anaphore initialement absente), d'autre part, il réduit considérablement la part que le héros prend à l'action, en éliminant la main et le doigt 'sur la gachette', laquelle, dans la version définitive 'cède' toute seule. Version antérieure:

... il m'a semblé que le ciel s'ouvrait sur toute son étendue pour laisser pleuvoir son feu. Quand j'ai eu la main sur la gâchette, je me suis senti inondé de joie. Mais mon doigt s'est crispé. Quand la gâchette a cédé et que j'ai senti le ventre poli de la crosse. [...]  'Quand j'ai eu la main sur la gâchette, je me suis senti inondé de joie...' oui, c'est bien ce qu'avait d'abord écrit Camus, avant de rayer [...] Pourquoi cette joie d'avoir une arme sous la main? Que Meursault, cet individu indifférent, peu enclin à manifester ses sentiments, ait éprouvé une immense joie ('inondé de joie': inutile de recourir à la psychanalyse [...]) à disposer d'une arme et à tirer sur un Araba à terre, voilà qui était trop explicite, idéologiquement et politiquement très incorrect, infiniment trop clair, trop parlant pour pouvoir être conservé comme tel. [...] La phrase biffée donne pleine raison à la lecture faite par l'historien Pierre Nora, le premier à avoir très clairement perçu et montré que le récit de Camus exprimait le 'sentiment vécu de la présence française en Algérie' [...] que les 'cinq coup de révolver' [...] illustrent bien moins une 'attitude philosophique' qu'une 'situation historique' [...] Au fond, Meursault a 'la rage rentrée' [...] la haine rentrée du petit blanc qui rêve d'en recoudre, a cette 'haine' qui éclate au grand jour deux fois: la première fois, lors du meurtre, la seconde [fois] lors du dialogue avec l'aumônier, deux scènes [...] qui se répondent. [...] Pour que le meurtre paraisse fatal, tragique, fortuit, absurde etc., pour que le soleil puisse être la cause [...] pour que l'explication par l'insolation ne prête pas (le lecteur) à rire [...[ 'la salle' a raison de 'rire' [...] il fallait absolument cacher, amputer cette main et ce doigt 'sur la gachette', et oblitérer cette submersion de joie pour efface ce qui ne cadre pas avec ce que le romancier veut faire (ac)croire. De là la version finale, 'soft', épurée blanchissant le petit blanc Meursault" (Ansel 2012, 150).

Der Roman naturalisiert das Soziale

Der Romantext selbst zeigt Soziales, aber verschweigt politische Hintergründe und Verantwortlichkeiten, sieht Natur da, "naturalisiert" (Volker 1967, 283) da, wo sich Soziales abspielt. In der Auseinandersetzung mit diesem Verschweigen offenbart sich durch Verschiebungen, Umdeutungen und Verlesen eine den politisch-sozialen Gehalt des Textes verleugnende Haltung der Leser zum Text. Die Auseinandersetzung um die Bewertung des Kolonialismus ist der Hintergrund, vor dem die Verleugnungen betrachtet werden müssen. Noch immer streitet man in Frankreich um dessen Einschätzung, wie Alain Finkielkrauts Kommentar zur Kritik am Kolonialismus in französischen Schulen zeigt:

"On change l'enseignement de l'histoire coloniale et de l'histoire de l'esclavage dans les écoles. On y enseigne aujourd'hui l'histoire coloniale comme une histoire uniquement négative. On n'enseigne plus que le projet voulait aussi éduquer, apporter la civilisation aux sauvages" (Finkielkraut 2005).

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Dr. Achim Schröder

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