Rezeptionsgeschichte als Geschichte einer Kontroverse: die Mordszene I
Pierre Georges Castex' Interpretation
Die fatalité als auslösender Faktor und das Verschwinden des bedrohlichen Arabers hinter der Erzählstrategie
Zum Referenztext quasi aller schulischen Deutungen ist die Deutung von Pierre Georges Castex geworden. Castex hält sich zunächst an Meursaults unmittelbare Beschreibung der Tat im ersten Romanteil und nutzt dann Begrifflichkeiten, die im zweiten Teil im Gerichtsverfahren gegen ihn verwendet werden, um die Beschreibung zu deuten:
"quand Raymond, la main à la poche de son revolver, propose de 'descendre' son adversaire, Meursault, avec sang-froid, ne dit pas nettement non, pour éviter de l'exciter, mais lui recommande, par deux fois, de ne pas tirer sans avoir été provoqué; puis, pour éviter l'irréparable, il se fait remettre le revolver. De nouveaux hasards feront jouer contre lui les précautions qu'il a prises, comme pour prouver que la sagesse de l'homme ne peut rien contre l'absurdité du destin. Le destin, en la circonstance, prend de nouveau la forme de la fatalité solaire, car le soleil glisse sur le revolver que Meursault tient maintenant dans la main" (84).
Castex gibt an, die Meursault blendende Sonne werde vom Revolver reflektiert. Nach Meursaults Erzählung aber ist es in Wirklichkeit das Messer des Arabers, das die "fatale Sonne" in sein Auge lenkt und so den Mord auslöst. Im literarischen Text ist der Zusammenhang zwischen der Bedrohung, die vom Messer zückenden Araber ausgeht, und dem Mord noch präsent. Bei Castex aber verschwindet sie, sie wird verleugnet oder überlesen, weil nicht der Text und die Mordszene präzise gelesen, sondern die gesamte Verteidigungsargumentation des Ich-Erzählers aus dem ersten und zweiten Teil des Romans mitgelesen wird und den Text selbst überdeckt: Die Begriffe Zufall, Absurdität, Weisheit und Schicksal stammen aus dem zweiten nach dem Mord erzählten Teil des Romans. Castex überliest entscheidende Details in der Mordszene und nutzt den zweiten Teil des Romans als Referenztext. Auch hier wird "L'Etranger" zu einem "roman de ...", zum Roman des Zufalls.
Interessanterweise enthält seine Deutung einen Hinweis auf mögliche andere Deutungen, die der seinen als kontrovers entgegenstehen: "C'est sous le signe du soleil, en effet, que doit se consommer le crime, comme s'est déroulée la cérémonie funèbre du chapitre premier […]. Ne cherchons pas d'autre origine [...] que celle du soleil à la tragédie qui se noue" (80-81).
Castex appelliert an die Leser, den Roman nicht politisch zu lesen, ja die Mordszene letztlich nicht wörtlich zu nehmen. Sein Appell, keine anderen Ursprünge für den Mord als die Absurdität des Schicksals und die Sonne zu suchen, legt offen, dass es offensichtlich Widerstände gegen seine unpolitische Deutung der Mordszene gibt. Die anderen Deutungen, auf die Castex hier verweist, deren Relevanz er in Abrede stellt und vor deren Untersuchung er abhalten will, sind möglicherweise jene, die von Pierre Nora 1961 und anderen seit Beginn der 60er Jahre diskutiert worden sind. Sie unterstreichen die Bedeutung des Kolonialkonfliktes für die Deutung der Szene und leisten damit eine politische Lektüre des Romans, die Castex auf jeden Fall vermeiden will, selbst um den Preis der weiter oben deutlich gewordenen Fehldeutung.
Warum wehrt sich Castex gegen eine politische Deutung der Mordszene?
Über die Gründe für die Widerstände kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Yves Ansel verweist auf die besondere Stellung von Camus, der als Nobelpreisträger zu einem nationalen Monument geworden war, den es gegen Kritik zu schützen galt (vgl. Ansel 2012, 17f.). Abgewehrt wird möglicherweise auch, Camus aus der Sicht der algerischen Leserinnen und Leser zu betrachten, deren militärischer Sieg im Kolonialkrieg dem französischen Nationalgefühl eine tiefe Demütigung zugefügt hat.
Solche Deutungen lagen mit den Arbeiten von Pierre Nora 1961 und Brian T. Fich 1960 schon früh vor, aber mit Ahmed Taleb Ibrahimi weist der erste arabisch-algerische Autor auf die Möglichkeit hin, den Mord politisch zu interpretieren und schlägt vor, in ihm den Wunsch der Kolonialfranzosen realisiert zu sehen, Algerien von den Arabern zu befreien:
"Je n’irais pas jusqu’à dire, avec certains, qu’en tuant l’Arabe, Meursault, et partant Camus, se défoule d’un complexe de petit blanc contracté depuis que sa mère fut brutalisée par un Algérien dans leur maison de Belcourt. Mais je pense qu’en tuant l’Arabe, Camus réalise de manière subconsciente le rêve du pied-noir qui aime l’Algérie mais ne peut concevoir cette Algérie que débarrassée des Algériens". L’invraisemblable condamnation à mort du meurtrier ne serait rien d’autre que "l’annonce de la fin d’un régime coupable et injuste" (Ibrahimi 1967).
Die Interpretation von André Abbou
Die Tradition, Camus' "L'Etranger" gerade nicht aus der arabisch-algerischen Perspektive, nicht historisch-soziologisch, nicht politisch zu betrachten, blieb trotz der Einsprüche von Nora und Ibrahimi ungebrochen. Die Deutungen von Abbou, Coste und Mougenot führen die Tradition weiter, wie Castex weder den Text noch seine Leerstellen sorgsam auswerten, sondern symbolische Bedeutungen dort suchen, wo zu fragen wäre, was das Erzählte und das Nicht-Erzählte bedeuten: Castex hatte sich verlesen und seine Deutung hat vom Araber als Bedrohung abgelenkt. André Abbou verliest sich nicht, er transformiert die Bedeutung des Wortes "descendre", das Raymond benutzt, um anzukündigen, dass er den Araber umbringen wird:
"A travers le conflit entre Sintès et l'Arabe passe, semble-t-il, l'opposition entre les faiseurs d'Histoires et le monde ancestral dont Meursault a la nostalgie, entre l'exploitation de l'homme et le refus de l'exploitation […] Des stéréotypes pris à rebours consacrent l'antagonisme: 'Je le descends' renvoie à 'je le fais descendre' (de son monde) et 'd'homme à homme' fait référence à la juste façon d'aborder les rapports humains" (Abbou 1985, 254).
Anstatt es als "umbringen" oder "umlegen" zu verstehen, gibt er dem Wort einen völlig neuen Sinn: "ich hole ihn aus seiner Welt um mit ihm besser kommunizieren zu können". Mit der neuen Wortbedeutung wird die Bedeutung des Textes selbst damit im Kern umgeschrieben, und die Deutung wird als Umdichtung zu einer Dichtung im Sinne von Löwenthal.
Über die Gründe für Abbous Entscheidung, den Text umzudichten anstatt ihn zu analysieren kann nur spekuliert werden.
Alain Costes Interpretation
Eine deutliche Spur für eine Motivation, nach dem historisch-soziologischen, politischen Beweggrund für den Mord nicht zu suchen, findet sich bei Alain Coste, der sich 1985 mit den inzwischen immer zahlreicher gewordenen Rassismusvorwürfen gegen den Text auseinandersetzen muss.
"Je ne serai pas le premier à faire remarquer la grande rareté des personnages arabes dans l'oeuvre camusienne. Certains ont crié au colonialisme, d'autres au racisme! [...] Pourquoi diable aller chercher dans le siècle ce qui, en critique littéraire, se trouve dans les textes? Les Arabes se font rares chez Camus? Eh bien! L'examen textuel s'en trouvera raccourci d'autant" (Coste 1985, 66).
Der Kritik an Camus setzt Coste entgegen, dass die Abwesenheit von Arabern im Text letztlich positiv zu bewerten sei, da sie die Textanalyse abkürze.
Warum begrüßt der Literaturwissenschaftler, dass das Fehlen von Arabern in Camus' Texten die Textanalyse abkürze? Eine Antwort müsste spekulativ bleiben, sicher aber wird sich der Gedanke nicht nur aus der in universitärer Forschung und schulischem Unterricht herrschenden Zeitnot erklären lassen.
In Camus' "L'Etranger" fehlen Araber nicht, obwohl sie ohne Namen auftreten. Ihre Präsenz ist unübersehbar, sie sind bedrohlich und die Kolonialherren schlagen ihre Versuche, sich für die Misshandlung der jungen Araberin zu rächen, die Raymonds Geliebte war, brutal zurück. Am Ende findet einer von ihnen den Tod, weil Meursault ihn erschießt.
Welche Gründe finden jene, die den Roman nicht als einen Roman lesen wollen, in dem die kolonialen Gewaltverhältnisse ihren Ausdruck finden?
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- Rezeptionsgeschichte als Geschichte einer Kontroverse: die Mordszene II
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