Albert Camus' "L'Etranger": Einen Schulklassiker genau lesen, Teil III.1

Fachartikel

Dieser Aufsatz bildet Teil III einer auf Forschungsarbeiten beruhenden Gesamtdeutung eines Schulklassikers des Französischunterrichts: Camus‘ "L’Etranger". Die Gesamtdeutung von Camus‘ "L’Etranger" beginnt im dritten Teil des Aufsatzes mit einer textnahen, genauen, abschnittsweisen Lektüre des ersten Romanteils. Dabei wird versucht, die Fragen zu stellen und zu beantworten, die eine von gängigen Deutungen unbeeinflusste Lektüre aufwirft.

Albert Camus' Roman "L'Etranger", zwischen 1939 und 1940 verfasst und 1942 veröffentlicht, kann wohl als "Schulklassiker Nummer eins" (Steinbrügge 2008, 77) gelten. Die Arbeit mit dem Roman im Unterricht steht jedoch trotz oder vielleicht gerade wegen der großen Zahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die sich an einer Deutung versucht haben, und wegen einer langen Tradition didaktisierter Unterrichtsvorschläge noch immer vor großen Herausforderungen. Eine besondere Schwierigkeit bei der Arbeit mit dem Text ergibt sich aus der Forschungslage. Rezeptionsgeschichtlich überlagern sich mehrere noch immer wirksame Phasen letztlich widersprüchlicher Romandeutungen (vgl. Ansel 2012, 123ff.), was eine dem Text angemessene, zum Verstehen des Textes führende didaktische Planung erschwert. 

3. Der erste Teil des Romans: Textanalyse der Erzählabschnitte

Beginnen wir zunächst mit einer nicht auf andere Metatexte - insbesondere nicht auf die Interpretationen von Sartre oder Camus - bezugnehmende Darstellung der für das Verständnis des Romans wichtigen Fragen, die in den einzelnen Erzählabschnitten aufgeworfen werden. Dabei soll es zunächst insbesondere darum gehen, all das genau zu lesen, was für eine Charakterisierung der Figuren des Romans als Sozialcharaktere wichtig ist. Den Leserinnen und Lesern sei dabei empfohlen, kritisch zu kontrollieren, dass dabei nichts umgedeutet und nichts in den Text hineingelesen wird, was nicht im Text erkennbar ist. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe des Reclam Verlages: Albert Camus: L'étranger, Reclam Fremdsprachentexte, Stuttgart 1986.

Chapitre I – La mort de la mère

Am Beginn des Romans steht der Tod der Mutter. Wie reagiert Meursault? Er notiert, auf den ersten Blick in einer Art Tagebuch, ihren Tod recht emotionslos zu Kenntnis genommen zu haben, wobei zugleich auffällt, dass er sie dennoch zärtlich "Maman" nennt. Indifferenz und Emotion sind in paradoxer Weise gleichzeitig zu erkennen. Die erste deutlich erkennbare emotionale Reaktion, von der erzählt wird, ist die von Meursaults Arbeitgeber: Sein "patron" weiß um die Tradition der Totenwache und der gesellschaftlichen Pflicht, die Toten der eigenen Familie zu beerdigen. Von dieser uralten Pflicht und Tradition berichtet schließlich bereits das antike Drama Antigone. Trotzdem zeigt er Meursault deutlich, dass ihm die Tradition lästig ist, dass er sie nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert. Er zeigt seine Unzufriedenheit damit, dass Meursault an den beiden Tagen seiner Arbeit nicht nachgehen wird: "Il n'avait pas l'air content"(3). Auffällig ist Meursaults Entgegnung: Er verteidigt sich und verweist darauf, dass er nicht schuld daran sei: "ce n'est pas de ma faute"(3). Auch beim Direktor im Altersheim plagt ihn ein Vorwurf, der diesmal ein Selbstvorwurf und damit Ausdruck seines schlechten Gewissens ist: "J'ai cru qu'il me reprochait quelque chose". Der Direktor aber entlastet ihn von der Vorstellung, ihm würde ein Vorwurf gemacht werden, weil er seine Mutter nicht im Alter gepflegt habe, mit den tröstend gemeinten Worten: "Vous étiez son seul soutien"(5).

Was bedeutet es, wenn Meursault gleich zu Anfang des Romans ein schlechtes Gewissen zu haben scheint? Zunächst einmal, dass er Wertmaßstäbe und Normen verinnerlicht hat, die sich in Form eines schlechten Gewissens noch gegen ihn wenden können. Zugleich aber wird deutlich, dass sein durch Sozialisation erworbenes Über-Ich in diesem Punkt nur noch schwache Impulse sendet. Er macht sich eben gerade ohne Einfluss von außen keine Selbstvorwürfe mehr, sondern braucht den Blick der anderen, um daran erinnert zu werden, welche Wertmaßstäbe und Handlungsnormen auf ihm lasten. Und es zeigt sich, dass die traditionellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen nicht nur für ihn kaum noch wichtig sind. Sein "patron" hält nichts mehr von der Tradition der Totenwache, der "directeur" nichts mehr von der Tradition der häuslichen Pflege der Alten.

Was sagt das über die Gesellschaft aus, in der Meursault lebt? In ihr bestehen die weiter oben geschilderten, von der politischen Rechten vertretenen traditionellen Normen und Werte fort, die sich auch im Bewusstsein von Meursault noch rudimentär erhalten haben, diese Wertmaßstäbe haben aber ihre Geltung im gesellschaftlichen Leben bereits verloren. Nur die Pflicht zur Arbeit kann noch eine gewisse Geltungskraft für sich beanspruchen. Andere Werte, auf die sich die Gesellschaft zu ihrer Reproduktion stützte, insbesondere der Familiensinn, haben ihre Bedeutung für die Gesellschaft, in der er lebt, offenbar verloren. 

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Chapitre II bis IV

Chapitre V – Die Kolonialisten und das Klima

Chapitre VI – Der Mord

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