Generationengespräche im Geschichtsunterricht
Fachartikel
Dieser Fachartikel ist ein Erfahrungsbericht über Generationengespräche im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II. Es werden Aspekte der Vorbereitung als auch der Durchführung und Nachbereitung geschildert. "Oral History" in der Praxis – Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Klassenzimmer Hildegard, Ilse, Irmtraut, Werner, Bernhard und Hans-Jörg sind überpünktlich. Die Vorfreude auf den Geschichtsunterricht steht in ihren Gesichtern geschrieben. Dabei kommen sie nicht als Schülerinnen und Schüler. Die Zeit, als sie in dieser Rolle die Schulbank drücken mussten, liegt immerhin mehrere Jahrzehnte zurück. Die Genannten sind bereits Seniorinnen und Senioren und betreten als Gäste das Klassenzimmer, in dem sie von Jugendlichen eines Geschichtskurses der Jahrgangsstufe 11 freundlich empfangen werden. Die Anwesenheit der rüstigen Rentnerinnen und Rentner ersetzt an diesem Schultag sowohl die Geschichtsbücher als auch anderes Unterrichtsmaterial. "Oral History" ist angesagt: Als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bringen die Gäste Geschichte in Form von lebendigen Erinnerungen, packenden Schilderungen und fundierten Einschätzungen in den Klassenraum ; einige haben zudem aussagekräftige Fotos und persönliche Gegenstände aus alten Zeiten im Gepäck. Solche "Generationengespräche" zwischen Seniorinnen und Senioren sowie Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II, die ich als Geschichtslehrer seit einigen Jahren regelmäßig in meinen Unterricht integriere, machen die behandelten Themen anschaulich und sind nicht nur fachlich, sondern auch menschlich eine Bereicherung. Meiner Erfahrung nach schafft es kein Medium, das Interesse am Schulfach Geschichte derart stark zu fördern, wie der persönliche Kontakt zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Ehemalige Schülerinnen und Schüler, mit denen ich bei Zufallsbegegnungen ins Gespräch komme, erinnern sich noch begeistert an viele Details aus früheren Generationengesprächen. Natürlich sind die Themen, die sich für die Einbindung von Oral History eignen, auf den Bereich der neueren Geschichte beschränkt. Trotzdem bieten sich viele interessante Gesprächsanlässe – zum Beispiel zur Lokal- oder Regionalgeschichte, zur Geschichte der Bundesrepublik oder zur europäischen Einigung . Schule als Begegnungsort – Geschichte durch Geschichten erleben … bei Kaffee und Kuchen Ein Generationengespräch sollte im Geschichtsunterricht einer Lerngruppe keine einmalige Veranstaltung sein. Viel ergiebiger ist es, diese Form von Oral History als regelmäßiges Event in einer "Projektklasse" zu verankern. Durch mehrfache Treffen können – vor allem bei den Jugendlichen – Hemmungen abgebaut werden und intensive persönliche Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Generationen entstehen. Je stärker die Vertrauensbasis ist, desto größere Lerneffekte können durch das Projekt erzielt werden. Als Lehrkraft und Projekt-Initiator habe ich die Rolle eines Bindeglieds, indem ich die jungen Menschen mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zusammenbringe . Einer Kollegin und einem (mittlerweile pensionierten) Kollegen verdanke ich meinen Kontakt zu der eingangs erwähnten Gruppe von aktiven Seniorinnen und Senioren, die seit Jahren mit viel Freude und großem Engagement an den von mir organisierten Generationengesprächen teilnehmen. Ohne die freundschaftliche Verbundenheit mit diesem festen Personenkreis wäre es sicherlich kaum möglich gewesen, das bewährte Projekt nach der langen Zwangspause durch die Corona-Pandemie "wiederzubeleben". Generationengespräche wollen gut vorbereitet sein Die Durchführung eines Generationengesprächs erfordert einen nicht zu unterschätzenden Vor- und Nachbereitungsaufwand. Im Laufe der Zeit hat sich ein fester Ablauf etabliert, den ich im Folgenden am Beispiel des jüngsten von mir organisierten Generationengesprächs zum Thema "Geschichte der Einigung Europas" präsentiere: Die Vorarbeit bestand in erster Linie darin, im Unterricht ein inhaltliches Faktengerüst als Grundlage für das Generationengespräch zu schaffen. Demnach fand das Treffen mit den Seniorinnen und Senioren nach Beendigung der eigentlichen Unterrichtsreihe statt. Nur so waren die Schülerinnen und Schüler in der Lage, fundiert über das – für sie weitestgehend neue – Thema zu sprechen. Konkret: über den Schuman-Plan, die EGKS, die Römischen Verträge und die ersten Europa-Wahlen bis hin zum Brexit. Im Verlauf der Unterrichtseinheit wurde den Jugendlichen sowohl die geografische Dimension als auch die institutionelle Vertiefung des europäischen Einigungsprojekts bewusst. Diese inhaltlichen Erkenntnisse dienten den Schülerinnen und Schülern als Basis, um unter meiner Anleitung einen Fragebogen zu entwickeln, der dann als Leitfaden beim Gespräch mit den Seniorinnen und Senioren zum Einsatz kam. Darüber hinaus ging es in der Phase der Vorbereitung auf den Besuch aber auch um ganz praktische Angelegenheiten, die eine sorgfältige Planung erforderten: die Festlegung eines passenden Termins (ohne "Kollisionen" mit Klausuren oder anderen Projekten), das Schreiben und Verschicken von Einladungen an die Gäste sowie die Organisation des (obligatorischen) Caterings. Schließlich darf bei den mehrstündigen intensiven Generationengesprächen zu interessanten Themen auch das leibliche Wohl nicht zu kurz kommen; ein gemütlicher Rahmen ist für die Gesprächsatmosphäre von entscheidender Bedeutung. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen treffen auf Schülerinnen und Schüler Dann kam der Tag, an dem das Generationengespräch über die europäische Einigung stattfinden sollte: Die meisten Schülerinnen und Schüler erschienen pünktlich, um einen bestimmten – für den gesamten Schultag gebuchten – Klassenraum passend einzurichten. Sie stellten Tischgruppen zusammen, bauten ein Kuchenbüffet auf, holten Geschirr aus der Schulküche und kümmerten sich um die Heißgetränke. Einzelne "Drückeberger", die lieber auf ihrem Smartphone herumtippen wollten als Servietten zu falten, wurden von motivierteren Mitschülerinnen und Mitschülern diszipliniert. So klappte die praktische Vorbereitung insgesamt sehr gut. Beim Eintreffen der Gäste herrschte in unserem Projekt-Raum eine regelrechte Wohnzimmer-Atmosphäre. Nach meiner kurzen Begrüßungsansprache stellte die engagierte Kurssprecherin die Lerngruppe vor, da dies für sie das erste Generationengespräch war und sich die Beteiligten noch nicht kannten. Aus diesem Grund wurde die erste halbe Stunde einem intensiven persönlichen Kennenlernen mit Smalltalk-Themen gewidmet und nebenbei sowohl ordentlich gegessen als auch Kaffee und Tee getrunken. Die selbstgebackenen Kuchen, für die sich einige Schülerinnen und Schüler am Vortag freiwillig sehr viel Mühe gegeben hatten, trafen generationenübergreifend jeden Geschmack. Die Sitzordnung im Raum hatte ich gemeinsam mit allen Beteiligten im Vorfeld genau geplant: An jedem der sechs Gruppentische saß jeweils ein Gast zusammen mit drei bis vier Schülerinnen und Schülern. Somit hatten die Jugendlichen die Gelegenheit, eine bestimmte Person besonders gründlich kennenzulernen und in der Arbeitsphase (im Anschluss an den gemütlichen Auftakt) auf der Grundlage des Fragebogens gezielt zu interviewen, um individuelle Antworten zu protokollieren. Es wurde schnell deutlich, dass die Seniorinnen und Senioren in ihrer Kindheit und Jugend noch nicht ahnen konnten, dass die europäische Einigung zu einem Staatenbund wie die EU führen würde. "Damals wurde unser Leben noch von Grenzen und Schlagbäumen eingeengt" , stellte Ilse fest. Werner hob hervor, wie stark die Schrecken des Weltkriegs auch nach 1945 ihre Wirkung zeigten und betonte: "Die europäische Einigung ist in erster Linie durch den Wunsch nach einem dauerhaften Frieden entstanden." Bernhard berichtete von den Startschwierigkeiten neuer Städtepartnerschaften und Hildegard schilderte lebendig, wie sie als Lehrerin daran beteiligt war, einen Austausch mit einer französischen Schule auf die Beine zu stellen. – Diese und noch viele weitere interessante Erinnerungen der Gäste ließen den Vormittag aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler wie im Fluge vergehen. Nach fast zweistündigen intensiven Gruppengesprächen über die europäische Einigung war es Zeit für eine Pause. Daraufhin versammelten sich Alt und Jung mit frischen Kräften in einem großen Stuhlkreis, um im Plenum die wesentlichen Ergebnisse der einzelnen Tischgespräche vorzustellen und miteinander zu vergleichen. Ein kurzes Impuls-Referat einer Schülerin über mögliche Zukunftsperspektiven der Europäischen Union führte zur abschließenden Diskussion über die spannende Frage, ob die EU ein Staatenbund bleiben oder sich zu einem Bundesstaat weiterentwickeln werde. Gegen Mittag wurden die Gäste dann herzlich verabschiedet. Nach den erforderlichen Aufräumarbeiten durften schließlich auch die Schülerinnen und Schüler nach Hause gehen. Die Gespräche nachbereiten und reflektieren Wenige Tage später stand die nächste Geschichtsstunde ganz im Zeichen einer Evaluation und inhaltlichen Nachbereitung. Die Jugendlichen gaben ein außerordentlich positives Feedback zum Generationengespräch und äußerten ohne Gegenstimmen den Wunsch, die Seniorinnen und Senioren demnächst wieder zu einem Arbeitstreffen einzuladen. Oral History sei eine ausgezeichnete Methode, um junge Lernende für zunächst etwas trocken wirkende Themen zu begeistern, brachte ein Schüler die Meinung des Kurses auf den Punkt und erklärte sich gern bereit, einen Artikel über die Veranstaltung für die Homepage der Schule zu verfassen. Das Generationengespräch stellte zudem auch dieses Mal besonders für eher zurückhaltende Schülerinnen und Schüler eine Chance dar, Engagement zu zeigen – schließlich war ihre Beteiligung für die Benotung der mündlichen Leistung relevant. Auch in dieser Hinsicht zahlte sich die Teilnahme an dem Projekt für die allermeisten Lernenden im Kurs aus. Generationengespräch zum Thema "Geschichte der Einigung Europas" – Fragebogen Für das Generationengespräch zum Thema "Geschichte der Einigung Europas" entwickelten die Schülerinnen und Schüler meines Geschichtskurses folgenden Fragebogen: Europäische Identität Was bedeutet für Sie Europa? Fühlen Sie sich als Europäerin beziehungsweise Europäer? Hatte Europa in Ihrer Kindheit und Jugend dieselbe Bedeutung wie heute? Haben Reisen in europäische Nachbarländer und Begegnungen mit Menschen aus anderen Teilen Europas Ihr Europa-Bild geprägt? Wie nehmen Sie die Haltung der bundesdeutschen Gesellschaft zum Thema Europa wahr? Hat sich die Haltung der Gesellschaft zu Europa Ihrer Erfahrung nach in den letzten Jahrzehnten geändert? Wie kann das gesellschaftliche Interesse an Europa gesteigert werden? Europäischer Einigungsprozess Konnten Sie als Jugendliche(r) erahnen, dass Sie heute in einem Staatenbund namens EU leben würden? Haben Sie den europäischen Einigungsprozess bewusst mitverfolgt? Spielte das Thema Europa während Ihrer Schulzeit eine Rolle im Unterricht? Welche Erfolge des europäischen Einigungsprozesses sind Ihrer Meinung nach besonders bemerkenswert und wichtig? Was macht die EU für Beitrittskandidaten attraktiv? Wie viele Länder sind 2030 Ihrer Einschätzung nach in der EU? Sollte die EU ein Staatenbund bleiben oder sollte Ihrer Meinung nach daraus ein Bundesstaat entstehen? Brexit Haben Sie mit dem Brexit gerechnet? Wie haben Sie auf den Brexit reagiert? Sind weitere EU-Austritte Ihrer Meinung nach realistisch? Was kann die EU aus dem Brexit lernen? Verschiedene Politikbereiche Wie bewerten Sie … die europäische Außenpolitik – vor allem im Hinblick auf die USA, China und Russland? die europäische Klimapolitik? die europäische Migrationspolitik? die europäische Finanzpolitik? die Zukunft der Euro-Zone? Fazit Im Namen der hier erwähnten Schülerinnen und Schüler sowie Seniorinnen und Senioren empfehle ich Ihnen das Projekt Generationengespräch zum Nachahmen in Ihrem Geschichtsunterricht. Nutzen Sie die Vorteile von "Oral History": Lassen Sie Geschichte (im wahrsten Sinne des Wortes) "lebendig" werden und wecken Sie in Ihrer Lerngruppe Empathie, Neugier und Interesse. Knüpfen Sie im Umfeld Ihrer Schule Kontakte zu aktiven Seniorinnen und Senioren und pflegen Sie diese nachhaltig. Anfangs wartet sicherlich "Pionierarbeit" auf Sie, aber wenn es Ihnen gelingt, die Generationengespräche als festen Bestandteil in Ihren Geschichtsunterricht zu integrieren, ist die Projektorganisation eine reine Routinesache. Sie sollten die Generationengespräche jedoch stets mit konkreten Unterrichtsinhalten verknüpfen, sodass die Schülerinnen und Schüler die persönlichen Schilderungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufgrund ihres Hintergrundwissens einordnen und verstehen können. Ich garantiere, dass die Jugendlichen viele Einzelheiten aus den Gesprächen mit den älteren Gästen so ergreifend finden, dass sie sich noch sehr lange daran erinnern werden. Vielleicht werden sie durch die Generationengespräche dazu motiviert, in einigen Jahrzehnten selbst einmal eine Schulklasse "von übermorgen" zu besuchen und vom Distanzunterricht während des Corona-Lockdowns zu berichten. Oder von Autos, die noch von fossilen Brennstoffen angetrieben wurden.
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