Flucht und Inhaftierung in der DDR
Unterrichtseinheit
In dieser Unterrichtseinheit zum Thema "Flucht und Inhaftierung in der DDR" werden die Motive für die Flucht aus der DDR anhand exemplarischer Einzelschicksal herausgearbeitet. Was veranlasst Menschen dazu, ihre Heimat, ihre Freunde und ihr bisheriges Leben für eine ungewisse Zukunft aufzugeben? Warum wurden Bürgerinnen und Bürger der DDR am Verlassen ihres Landes gehindert und sogar Kriminellen gleichgestellt?"Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren" (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, § 13,2). Obwohl die DDR mit der KSZE-Schlussakte (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) von Helsinki im Jahr 1975 jedem Menschen das oben genannte Recht einräumte, wurde die offiziell als "ungesetzlicher Grenzübertritt" (§ 213 des Strafgesetzbuches der DDR) bezeichnete Flucht als Straftatbestand gewertet und seit 1968 in der DDR mit einer Freiheitsstrafe belegt, die im "schweren Fall" bis zu fünf Jahre betrug. Bürgerinnen und Bürger der DDR, die ihr Land verlassen wollten, trafen damit nicht nur eine schwerwiegende persönliche Entscheidung, sondern riskierten zudem eine langjährige Haftstrafe. Die Unterrichtseinheit hinterfragt die Gründe von Flucht und Inhaftierung in der ehemaligen DDR und lädt zu einer Vertiefung in der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam ein. Hohe Flüchtlingszahlen bis zum Mauerbau Bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 war eine Flucht nach West-Berlin relativ gefahrlos und führte zu enormen Flüchtlingszahlen, die durch einen Ausbau der Grenzsicherungsanlagen eingedämmt werden sollten. Doch auch in den folgenden Jahren gab es mehrere Tausend Fluchtversuche pro Jahr, die das Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ab den 1970er Jahren unterbinden sollte. In der Folge wurden Personen, die eine Flucht planten, vorbereiteten oder von solchen Aktivitäten wussten, in Untersuchungsgefängnissen inhaftiert, verhört und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Da die Staatssicherheit hierbei eine entscheidende Rolle spielte, werden auch Aufbau, Organisation und Aufgaben des MfS betrachtet. Motive erarbeiten Welche Motive für ein Verlassen beziehungsweise ein Verbleiben in der DDR sprachen, sollen darüber hinaus ebenso erarbeitet werden wie die "legale Flucht" mittels eines Ausreiseantrages. Der Aspekt der Inhaftierung wird durch die Möglichkeit des Freikaufs erweitert, der verdeutlicht, dass die DDR einerseits Personen einsperrte, sie andererseits aber gegen Bezahlung frei ließ. Didaktisch-methodische Hinweise zur Unterrichtseinheit "Flucht und Inhaftierung DDR" In der Unterrichtseinheit geht es um exemplarische Einzelschicksale, aus denen die Motive für die Flucht aus der DDR herausgearbeitet und auch die Gründe für die Inhaftierung beleuchtet werden sollen. Fachkompetenzen Die Schülerinnen und Schüler kennen Gründe für die Flucht aus der DDR und können einen Zusammenhang zu den politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Rahmenbedingungen in der DDR herstellen. können die Risiken und Gefahren einer Flucht einschätzen. können einzelne Fluchtbeispiele, die Motive zur Flucht sowie den Verlauf der Flucht skizzieren und in die Entwicklung der Fluchtbewegung aus der DDR einordnen. können den Rückzug ins Private als Form der "Flucht nach innen" erläutern und auf tatsächliche Realisierungsmöglichkeiten überprüfen. erläutern die Möglichkeit eines Antrags auf Ausreise aus der DDR als ?legale Flucht', beurteilen die Entscheidungen über Ausreiseanträge als willkürlich und erkennen dies als Abschreckungsversuch durch das MfS. erkennen und bewerten, dass Republikflüchtlinge aus politischen Gründen inhaftiert und kriminalisiert wurden. Medienkompetenzen Die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass es sich bei Zeitzeugenberichten um perspektivische Quellen handelt. können den Aussagewert von Zeitzeugenberichten bestimmen. können aus Zeitzeugenberichten Informationen entnehmen. können im Internet Informationen recherchieren. lernen, die Einzel- und Teamarbeit selbstständig zu organisieren. präsentieren Rechercheergebnisse anspruchsvoll und angemessen. Gründe für eine Flucht aus der DDR Schülerinnen und Schüler kennen Flucht aus dem Heimatland wohl hauptsächlich aus dem Fernsehen und verbinden dies wahrscheinlich mit Kriegswirren oder menschenunwürdigen Lebensumständen in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Auch die jüngsten Unruhen in nordafrikanischen Ländern haben gezeigt, dass es zumeist bürgerkriegsähnliche Zustände sind, die Menschen zu einem Verlassen ihres Heimatlandes bewegen. Die Tatsache, dass Menschen unter Einsatz ihres Lebens und unter Aufgabe ihres bisherigen beruflichen und sozialen Umfelds aus der damaligen DDR in den westlichen Teil Deutschlands flüchteten, dürfte den meisten Lernenden daher kaum vorstellbar sein. Deutsch-deutsche Beziehungs- und Abgrenzungsgeschichte Die Zurückdrängung der Ausreisebewegung aus der DDR und die Verhinderung von Fluchtversuchen geschahen zwar in der DDR, sind aber als Aspekt der deutsch-deutschen Beziehungs- und Abgrenzungsgeschichte zu verstehen. So wurden diese in der DDR-Aktensprache bezeichneten "Erscheinungen" von der SED-Führung und dem MfS als vom Westen ausgehend gedeutet. Der Grund für die enorme Fluchtbewegung, die in der Mehrzahl den westdeutschen Teil zum Ziel hatte, lag laut SED-Führung in gezielten Abwerbungen durch den Westen. Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurde damit als Agitator dargestellt. Internetnutzung steht im Vordergrund Erfahrungsberichte von ehemaligen DDR-Bürgern, die ihr Land verlassen wollten, zeigen jedoch, dass es sich überwiegend um Motive handelte, die den eigenen Staat betrafen oder von diesem ausgelöst wurden. Die Unzufriedenheit in wirtschaftlicher Hinsicht, vor allem die zunehmende Politisierung des Lebens und immer striktere Einschränkungen, etwa bei der Reisefreiheit, ließen bei vielen DDR-Bürgerinnen und Bürgern den Gedanken an eine Flucht aufkommen. Bei der Erarbeitung der Themen kommen unterschiedliche Websites und Fachportale zum Einsatz, die Nutzung des Internets steht im Vordergrund. Fluchtmotive und Fluchtgeschichten In der vorliegenden Unterrichtseinheit werden die Prinzipien der Exemplarität und Konkretheit verfolgt, daher werden Fluchtmotive und Fluchtgeschichten an Fallbeispielen erarbeitet (Arbeitsblatt 1). Den Schülerinnen und Schülern wird auf diese Weise vermittelt, dass das Recht auf Reisefreiheit und das Überqueren der Staatsgrenzen, das ihnen heute selbstverständlich ist, für viele Deutsche vor 1989 ein unerreichbares Gut war. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) thematisieren Die Herrschaftsgeschichte der DDR und insbesondere die Unterdrückung von Flucht und Ausreise sind ohne das MfS nicht denkbar. Die Staatssicherheit war eine zentrale Säule der SED-Herrschaft und das wichtigste Repressionsinstrument der SED gegen die eigene Bevölkerung. Nur mit Hilfe der durch das MfS gewährleisteten Kontrolle, von Einschüchterung und Repressionsmaßnahmen konnte die SED den gesellschaftlichen Zusammenbruch abwehren. Daher muss im Rahmen der vorliegenden Unterrichtseinheit auch die Staatssicherheit thematisiert werden (Arbeitsblatt 3). Multiperspektivität Darüber hinaus sollen Auszüge aus Originalakten des MfS herangezogen werden, in denen der versuchte Grenzdurchbruch zweier Schüler dokumentiert ist. Die Forderungen nach Multiperspektivität und Perspektivenwechsel im Geschichtsunterricht können hierdurch umgesetzt werden. Die Wahrnehmungen der fluchtbereiten DDR-Bürgerinnen und Bürger kann der Sprache der Mächtigen in Form von Aktenüberlieferungen des MfS gegenübergestellt werden. Bleiben oder Gehen? Multiperspektivisches Lernen soll auch durch Bausteine 2 angeregt werden: Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten, welche Beweggründe für ein Verlassen der DDR beziehungsweise für den bewussten Verbleib im Heimatland sprachen. Hierzu soll eine Podiumsdiskussion vorbereitet und durchgeführt werden (Arbeitsblatt 4 "Gehen oder Bleiben?"). Auf diese Weise wird gewährleistet, dass die Schülerinnen und Schüler angesichts der Statistiken zur Fluchtbewegung oder zu den Antragszahlen für eine "ständige Ausreise" aus der DDR nicht den Eindruck erhalten, sämtliche Bürgerinnen und Bürger der DDR hätten ihr Land verlassen wollen. Insbesondere systemkritische Bürgerinnen und Bürger strebten an, das Land "von innen" zu reformieren. Das Ausreiseverfahren Mit dem Ausreiseverfahren verbindet die heutige Schülergeneration ein für Ausreisende formales Routineverfahren. Durch eine Aktivierung der Assoziationen der Lernenden zum Thema Ausreise wird herausgearbeitet, welche Fehleinschätzungen der Transfer vom heutigen Begriffsverständnis auf historische Phänomene bewirken kann, da das Ausreiseverfahren für DDR-Bürgerinnen und Bürger langwierig und zermürbend war und häufig mit gesellschaftlichen oder beruflichen Repressionen einherging. Die Frage nach den individuellen Folgen eines "rechtswidrig" gestellten Ausreiseantrags für die Familien soll ebenfalls anhand eines Fallbeispiels rekonstruiert werden. Die Absichten der SED-Führung erfragen Die Kriminalisierung der Ausreise- oder Fluchtwilligen dürfte für Schülerinnen und Schüler besonders schwer zu verstehen sein. Daher muss an dieser Stelle unbedingt erarbeitet werden, welche Zielsetzungen die SED-Führung damit verband. Hierdurch ergeben sich auch Verknüpfungen zur Blockbildung zwischen Ost und West, da die Fluchtzahlen schon deswegen eingedämmt werden mussten, um den Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus nicht als unterlegen erscheinen zu lassen. Die Haftbedingungen untersuchen Zudem erarbeiten die Lernenden an dieser Stelle der Unterrichtseinheit grundlegende Informationen zu den Haftbedingungen in Untersuchungsgefängnissen und erweitern den Aspekt der Inhaftierung um die Möglichkeit des Freikaufs durch die Bundesrepublik Deutschland. Hierdurch wird deutlich, dass die Beteiligten sich zum Teil auf ein perfides System einließen, bei dem Oppositionelle zunächst eingesperrt, gegen Devisen aber frei gelassen wurden. Die Unterrichtseinheit kann im Rahmen der Themen "Der Weg zur Deutschen Einheit", "Geteilte Welt und Kalter Krieg", "Blockbildung und Weltmächte" oder "Geschichte Deutschlands nach 1945 im europäischen und internationalen Kontext", die in den Kerncurricula für den 9. und 10. Jahrgang der Haupt- und Realschule und des Gymnasiums vorgesehen sind, verwendet werden. Die Aufgaben zur Vertiefung bieten sich für leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler am Gymnasium an. Kenntnisse über die Innenpolitik und die Gesellschaft der DDR Vorausgesetzt werden grundlegende Kenntnisse der innenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung der DDR bis 1961 sowie zum Aufbau und zu zentralen Aufgaben des MfS (Kampf gegen "Republikflucht"). Die Einheit bietet sich insbesondere nach einer Behandlung der Fluchtbewegung bis 1961 und dem Bau der Berliner Mauer an. Aus dem historischen Kontext argumentieren Wenn es um eine Beurteilung der historischen Situation geht, ist darauf zu achten, dass die Schülerinnen und Schüler nicht vorschnell aus heutiger Sicht urteilen. Vielmehr geht es darum, die Motive der Beteiligten zu verstehen und herauszuarbeiten. Sollen die Lernenden beispielsweise erarbeiten, was die DDR-Regierung mit den gesetzlichen Regelungen zum "ungesetzlichen Grenzübertritt" erreichen wollte, sollten sie dies in die historischen Rahmenbedingungen einordnen und auf ideologische Grundlagen, das Verhältnis zur Sowjetunion (SU) und die generelle Blockbildung beziehen. Eine Beurteilung soll in allererster Linie aufgrund des historischen Kontextes erfolgen. Alle genannten Bausteine sind auch einzeln verwendbar, teilweise müssen dann aber Bezüge zwischen den Themenaspekten hergestellt werden (so zum Beispiel in der letzten Aufgabe auf Arbeitsblatt 6). Der erste Baustein (Arbeitsblatt 1 "Fluchtgeschichten") kann zudem mit einem Besuch in der Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 in Potsdam vertieft und erweitert werden (Arbeitsblatt 2 "Die Ausstellung"), da die Gedenkstätte eine Ausstellung zum Thema "Flucht in den Westen" bietet. Umgekehrt können auch die Aufgaben zum Lernen vor Ort an den Beginn einer Unterrichtseinheit zum Thema "Flucht aus der DDR" gestellt und mit einzelnen Aufgaben aus diesem Baustein verknüpft werden. Die entsprechenden Verweise finden sich auf Arbeitsblatt 2. Generell kann und soll ein Besuch der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam den Abschluss und Höhepunkt der Unterrichtseinheit bilden, da das bisher Gelernte dort vertieft und erweitert werden kann. Die Gedenkstätte bietet einige Informationstafeln zu Haftgründen (Republikflucht, Ausreiseantragssteller) und Häftlingszahlen im Untersuchungsgefängnis Potsdam sowie generelle Informationen zu Fluchthilfe und geglückten und verhinderten Fluchten, die mit Hilfe des letzten Arbeitsblattes erarbeitet werden können. Detjen, Marion "Menschenhandel" oder Widerstand? Fluchthilfe für DDR-Bewohner nach dem Mauerbau 1961 bis 1989, München 2005. Eisenfeld, Bernd u.a. Ausreisen oder dableiben? Regulierungsstrategien der Staatssicherheit. Aus der Veranstaltungsreihe des Bundesbeauftragten. Öffentliche Veranstaltung am 26. Oktober 1995 (Reihe B: Analysen und Berichte), 2. Auflage, Berlin 1998. Kleindienst, Jürgen (Hg.) Von hier nach drüben. Grenzgänge, Fluchten und Reisen. Deutschland 1945 bis 1961. 38 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen (Reihe Zeitgut 11), Berlin 2001. Kleindienst, Jürgen (Hg.) Mauer-Passagen. Grenzgänge, Fluchten und Reisen 1961 bis 1989. 46 Erinnerungen aus Ost und West (Reihe Zeitgut 19), Berlin 2004. Müller, Bodo Faszination Freiheit. Die spektakulärsten Fluchtgeschichten, Berlin 2000. "Freiheit um jeden Preis" Moderation Stefan Gödde. Buch und Regie Hans von Kalckreuth, Berndt Welz (Galileo Spezial), 2010. "Der Traum von Freiheit: Geschichte eines Fluchtversuchs" Film von Fanni König (Faszination Leben), 2010. "Rübergemacht - und dann? Sechs Lebensgeschichten (1989 bis 2009)" Film von Susanne Bausch, 2009. "Grenzfall Böseckendorf: Flucht in letzter Sekunde" Film von Falko Korth und Thomas Riedel, 2009.
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